Man braucht ein bisschen Vorstellungskraft, doch der Aufwand lohnt sich: Wir befinden uns auf einem Schulhof im März 1986. In einer Ecke begegnen sich zwei langhaarige junge Menschen. Sie blicken sich verschworen an, woraufhin einer aus der Tasche seiner Jeansjacke ein selbstbeschriftetes Tape zieht. In krakeliger Knabenschrift steht darauf zu lesen: „Master Of Puppets“. Er hat es überspielt, von der Schallplatte seines älteren Bruders. Angeblich stellt das Album alles in den Schatten, was man bisher aus dem Bereich harter Rockmusik kennt.
Der Empfänger setzt sich also, zu Hause angekommen, mit zittrigen Fingern vor seinen rostigen Kassettenplayer und startet das Tape. In den nächsten 54 Minuten hört er eine Band, die weit davon entfernt ist, ihre eigenen Fans zu verklagen, mehrere hunderttausend Dollar in Kunst zu investieren, auf ihr Äußeres zu achten, ihren Frontmann in den Entzug zu schicken, ein Album mit Lou Reed aufzunehmen oder mehrere Millionen Dollar mit einem Filmprojekt in den Sand zu setzen.
Stattdessen wird er Zeuge, wie vier gerade so der Adoleszenz entwachsene Typen Metal auf eine neue Ebene bringen, vom elaborierten Intro des Openers „Battery“ über das tonnenschwere „The Thing That Should Not Be“ und das treibende „Disposable Heroes“ bis hin zur blinden Raserei des Finales „Damage, Inc.“. Kurzum: Er erlebt Metallica auf der Höhe ihres Schaffens.
Am bloßen Geschwindigkeitsrausch der Kollegen will das Quartett ohnehin nicht mehr teilnehmen. Während Slayer etwa ebenfalls 1986 mit „Reign In Blood“ ein lupenreines, ultra-kompaktes Thrash-Gemetzel aufnehmen, suchen Metallica nach neuen Wegen, das aufkeimende Genre weiterzuentwickeln. Schon 1984, auf ihrem zweiten Album „Ride The Lightning“, waren diese Bestrebungen erkennbar, gerade im Gegensatz zum rohen Debüt „Kill Em All“.
Tatsächlich gibt es einige Indizien, die darauf hinweisen, dass „Master Of Puppets“ direkt auf seinen Vorgänger Bezug nimmt: In beiden Fällen gibt ein akustisches Intro, einen epischen Titeltrack an zweiter Stelle, eine Ballade an vierter Stelle und ein langes Instrumentalstück gegen Ende der acht Songs. Die Ähnlichkeiten laden zu einem Kräftemessen zwischen den Platten ein, das Fans gerne stellvertretend austragen – sie zeigen jedoch vor allem, dass Metallica auf Formeln gestoßen sind, die sie noch nicht voll ausgereizt haben, und die sie schließlich an der Speerspitze des Genres etablieren sollten.
Um das volle Potential ihrer Ideen zu entfalten, engagiert die Band erneut Flemming Rasmussen als Produzenten. Drei Monate lang feilen sie in Dänemark, Lars Ulrichs Heimat, an ihrem neuen Material, unterstützt durch den üppigen Vorschuss des Majorlabels Elektra. Auch das markiert einen Wandel: Die Plattenfirmen wittern, dass hier ein Markt wächst, und wollen den Anschluss nicht verpassen.
Vom ebenfalls zu dieser Zeit aufkommenden – und noch verkaufsträchtigeren – Hair Metal grenzen Metallica sich jedoch alleine optisch schon ab. Der Sound pendelt sich analog dazu irgendwo zwischen NWOBHM und Punk ein, letzterer Stil findet sich auf „Master Of Puppets“ sogar in den sozialkritischen Texten wieder. James Hetfield berichtet hier von Kontrollinstanzen, die den Menschen dirigieren, seien diese nun religiöser Natur („Leper Messiah“), das Militär („Disposable Heroes“), Drogen („Master Of Puppets“) oder gar der eigene Wahnsinn („Welcome Home (Sanitarium)“). Die Mischung aus Auftreten sowie Anspruch in Text und Musik sorgt dafür, dass die Band enormen Zuspruch in unterschiedlichsten Kreisen genießt.
https://www.youtube.com/watch?v=9Em4KS-1BB0
Sieht man sich Aufnahmen aus dieser Zeit an, so scheint die Band selbst nicht so ganz zu begreifen, was um sie herum geschieht. Dass sie ihre Songs unter Kontrolle haben, ist allerdings zu keiner Zeit fraglich, selbst wenn sie sich mit ihnen beherzt zwischen alle Stühle setzen. Alleine der Titeltrack ist mit über acht Minuten Spielzeit so lang wie drei zeitgenössische Slayer Songs, aber nicht weniger komplex oder abwechslungsreich. Vielmehr ist hier bereits erkennbar, dass „… And Justice For All“ sich zwei Jahre später noch stärker an einer Verschmelzung von Metal und Prog versuchen wird, ohne jedoch an Energie zu verlieren.
Der Opener „Battery“ bietet dagegen – hat man sich erst mal durch das sanfte Intro bugsiert – eine ungleich höhere Dichte und ist gemeinsam mit dem abschließenden „Damage, Inc.“ einer der Songs des Albums, die man noch am ehesten dem klassischen Thrash Metal zuordnen kann. Dazwischen gelingt Metallica mit „Welcome Home (Sanitarium)“ erneut eine unpeinliche Ballade, bei der vor allem Hetfields Gesang glänzen darf, sowie mit „The Thing That Should Not Be“ ein Song, der die Schwere von Doom Metal bereits vorauszuahnen schient. Zudem arbeitet sich die Band bei letzterem Stück bereits zum zweiten Mal nach „The Call Of Ktulu“ an einem von H.P.Lovecraft erdachten Kult ab und baut damit eine weitere Brücke zu „Ride The Lightning“.
Diesen Stoff hatte Bassist Cliff Burton in die Band eingeführt; zudem war er maßgeblich an der Entstehung des Instrumentalstückes „The Call Of Ktulu“ beteiligt. Dieser Typ, der aussah wie ein verbollertes Relikt der frühen 70er, hatte ein ausgezeichnetes Händchen für Kompositionen, das er neben den beiden Platzhirschen Ulrich und Hetfield gerade bei den instrumental gehaltenen Stücken regelmäßig unter Beweis stellen durfte. Auf „Master Of Puppets“ heißt dieses Stück „Orion“, erinnert von heute aus betrachtet an Post Rock und glänzt unter anderem durch Burtons warmen, zentral gesetzten und teils gar solierenden Bass.
Cliff Burton ist jedoch auch die Person, die das Album und gewisser Weise sogar die gesamte Bandgeschichte für immer überschattet. Beflügelt vom Erfolg ihres dritten Albums, touren Metallica 1986 unermüdlich, zunächst im Vorprogramm von Ozzy Osbourne, im Anschluss durch Europa mit Anthrax. Ende September kommt dabei ihr Tourbus zwischen Stockholm und Kopenhagen von der Straße ab, Burton verliert durch den Unfall sein Leben, der Rest kommt mit einem Trauma davon. Viel hat man seitdem über den Unfall geschrieben, vor allem jedoch darüber, wie Metallica im Anschluss weitermachen.
Keine zwei Monate später stehen sie mit dem frisch von Flotsam & Jetsam abgeworbenen Bassisten Jason Newstedt wieder auf der Bühne und wirken, als hätten sie das Ereignis einfach so weggesteckt. Dass dem nicht so ist, merkt man erst in den folgenden Jahren, als die Unzufriedenheit in der Band immer weiter wächst, was unter anderem zu Newstedts Ausstieg führt. Noch in „Some Kind Of Monster“, der Dokumentation zur Entstehung des Albums „St. Anger“, landet die Band auf der Suche nach Problemen wieder bei Burtons Tod und der fehlenden Aufarbeitung.
https://www.youtube.com/watch?v=zgk3ZXWdJxs
1986 steht für Metallica jedoch das zarte Pflänzchen ihrer Karriere im Vordergrund, so dass sie dem eingeschlagenen Weg konsequent weiter folgen. Die Erfolgskurve zeigt nach oben, und die Band folgt ihr, über Jason Newstedt hinweg, vorbei an einem verhunzten Filmprojekt, an Lappalien wie lackierten Fingernägeln und kurzen Haaren, bis hin zum Status, eine der größten Bands der Welt zu sein, den sie heute zweifellos innehaben.
Es fällt leicht, Metallica wegen dieser Geschichten zu belächeln und zu all den anderen Bands zu stecken, die irrelevant geworden sind und deren Musik zudem schlecht gealtert ist. Doch wenn man sich die Mühe macht, ein Album wie „Master Of Puppets“ mal wieder ohne den ganzen Ballast aufzulegen, so als wäre es 1986, dann kann man zweifellos erkennen, dass ihre Musik nicht nur prägend für ein ganzes Genre war, sondern auch heute noch mit Vielschichtigkeit, Gespür für Melodie und Härte sowie exzellentem kompositorischem Geschick begeistern kann.
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