Okay, okay, die Hits waren es also nicht, die Bilderbuch zu einer der wichtigsten Bands der Gegenwart gemacht haben, ansonsten gäbe es jetzt ja „Mea Culpa“ nicht. Man kann nie vorhersagen, wie sich die Dinge entwickeln, doch Stand jetzt, bevor sich die Welt dieses Album angeeignet hat und Streaming, Live-Auftritte und Fans ihre eigenen Gesetze walten lassen, gibt es auf dieser Platte nicht den einen Song, den wir alle feiern werden, dessen Zeilen meist junge Menschen zitieren werden, bis die Zitierenden immer älter und die Zeilen schließlich zum Klischee werden. Seit Bilderbuch ehedem mit „Maschin“ aus der Existenz als regional respektierter Indie-Band mit Ambitionen getreten sind, gab es in der Öffentlichkeit vorrangig zwei Meinungen über sie, nämlich dass sie entweder eine Lücke gefüllt hätten, von der man gar nicht wusste, dass sie existiert, oder dass sie eben an zwei, drei ganz guten Songs knabbern, die durch Gimmicks wie schrullige Sprache, spleenige Videos oder wuschelige 90er-Frisuren hochgejazzt wurden, aber der Pop-Musik nichts von Substanz hinzuzufügen hätten.
Beide Seiten zehren – eigentlich logisch, aber dennoch erwähnenswert – vom gleichen Phänomen: Bilderbuch sehen es nicht ein, sich auf einen Sound abonnieren zu lassen, sind massiv von der Gegenwart beeinflusst, haben sich kurioserweise aber nicht dafür entschieden, Trap zu machen oder irgendwen zu kopieren, sondern die Quellen ins Aberwitzige zu steigern, sowohl was die Vielzahl als auch ihre Charakteristika angeht. Wer da mit Substanz argumentiert, kann vielleicht mit Pop im Allgemeinen nicht so viel anfangen, und dazu passt dann auch irgendwie, dass sich auf „Mea Culpa“ der bisher beste Pop-Song im Å’uvre der Österreicher findet: „Checkpoint (Nie Game Over)“ kraucht erst ein bisschen rum, doch dann setzt Michael Krammer mit einer erstaunlich cleanen Gitarre ein, die er ein bisschen so spielt, wie Frusciante in den einfühlsamen Phasen der Chili Peppers, nur dass der Song dazu kaum nach den Chili Peppers klingt. Wie so oft auf der Platte, singt Maurice Ernst eine Person an, zu der er eine intime, aber nicht zwingend romantische Beziehung pflegt, die irgendwie gestört, aber nicht unbedingt desolat scheint, ebenso wenig wie der Song, der überraschend unbehelligt vor sich her läuft, die sonstige Überzogenheit ablegt und zu einer bemerkenswerten Klarheit findet.
Die wiederum überzeichnet der folgende Closer „Aloe Vera“ selbstverständlich gnadenlos, mit viel zu sanften Keyboard-Tönen, einem lächerlich plüschigen Solo Krammers und Autotune-Gedusel am Ende, in das dann doch noch ein paar scheppe Synthesizer-Töne krachen, vermutlich um die Sache nicht zu rund zu machen, alle Möglichkeiten offen zu halten. Erinnert man sich für einen Moment an „Schick Schock“, das ja schon mit stilistischer Offenheit zu überzeugen wusste, fällt auf, wie komprimiert und stimmig die Songs auf dem Album klangen, alle potentiell live vorstellbar, alle irgendwie von einer gewissen Grundhaltung getragen, aber alle auch ein bisschen voneinander isoliert. Davon ist auf „Mea Culpa“, gerade weil die einzelnen Stücke stilistisch teils weit auseinanderdriften und der Sound einzelner Instrumente sich oft von Song zu Song vollkommen verändert, nichts mehr zu spüren: Hier ist alles im Fluss, Ernsts Zeilen stolpern vollends durcheinander, und sie aufzusammeln macht nur bedingt Sinn.
Als Beleg reicht eigentlich der Opener: „Sandwishes“, als Wortspiel eigentlich zu flach um länger zu beschäftigen, bis man sich fragt, ob die „Super Rich Kids“, von deren Problemen hier berichtet wird, vielleicht auch die sind, die Frank Ocean auf „Channel Orange“ gemeinsam mit dem damaligen Odd Future Kumpanen Earl Sweatshirt besang, und hatte nicht Odd Future Chef Tyler, The Creator im Jahr zuvor einen semi-erfolgreichen, ähnlich kalauernden Track namens „Sandwitches“ veröffentlicht? Solche Querverbindungen befeuern Bilderbuch, vor allem auf musikalischer Ebene, permanent, selten sind sie gewinnbringend im detektivischen Sinne. Die Gesangsmelodie in „Memory Card“ erinnert zwar irgendwie kurz an Seal, aber an welchen Song eigentlich, und das Schlagzeug an Reggea, aber ohne, dass man diesen Eindruck mit Verweis auf Genre-typische Rhythmen festnageln könnte. Die Gitarre hingegen ist auf diesem Track, so viel lässt sich sagen, wieder im gewohnten Modus, klingt also, als wolle sie sich nachträglich als Samplequelle für „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ bewerben.
Zu Beginn des Albums steckt Krammer derweil ordentlich zurück, setzt gerade in den ersten drei Stücken lediglich Akzente, neben Loops, Ad-Libs und Samples. „Taxi Taxi“ ist ein benommener Inner City Blues, repetitiv und abwechslungsreich zugleich, zudem trotz plötzlich in den Song fahrender, dramatischer Streicher ohne rechte Dynamik ausgestattet und damit hervorragendes Bindeglied zwischen dem verspulten „Sandwishes“ und dem Lo-Fi-Acid-Jazz-Loop-Fest „Lounge 2.0“, auf dem sich Ernst schicksalsergeben durch den Alltag quält, als wäre Sven Regeners Millenial-Inkarnation. Generell ist der Wunsch nach Energie und Stress, der das im Nachhinein klar als Make-it-or-break-it-Platte erkennbare „Magic Life“ auszeichnete, einem an alte Muster angelehnten, aber radikal fragmentarischen Ansatz gewichen. Mehr denn je sind es Lautmalereien und Phrasierungen, die die Stücke schmücken und schamanische Anrufungen von Maschinen und Apps und Effekten und dem Internet und Trap und Prince und Kroko Jack stützen, während es andernorts fast frömmelnd wird und ausgerechnet im „Megaplex“ die Transzendenz hockt, die der stressige Netflix-Alltag nicht bieten kann.
Hier erreicht die Platte einen schillernden Höhepunkt, was aber nur unter anderem daran liegt, dass Krammer endlich ungeniert aufspielen darf, und ganz sicher nicht zur Abwertung der anderen Stücke führt, ganz im Gegenteil: Deren Ruhe, behutsam aufgebrochen und erweitert durch das verspielte „Mein Herz bricht“, macht „Megaplex“ als Effekt erst möglich, ebenso wie die nur kurz auftauchende, sofort wieder verhallende, verzerrte Gitarre am Ende des Songs erst dadurch strahlen darf, dass danach eben kein noisiger Rocksong, sondern „Memory Card“ kommt, der zwar kompakt, aber aufgrund seiner kruden Coda eben auch kein Hit ist … ihr seht, wo das hingeht, oder?
Von „Mea Culpa“ aus betrachtet, könnte man „Magic Life“ theoretisch als Übergangsplatte charakterisieren, mit ihrem Interesse an Hits, aber auch der zunehmenden Entgrenzung von Strukturen und dem Herauszögern der Veröffentlichung von „Bungalow“ als Single vorab, wenn man mal auf eine Ebene außerhalb der Musik wechseln möchte – damit würde jedoch unter den Tisch fallen, dass im Grunde jedes Bilderbuch-Album einen Übergang darstellt, es immer irgendwie wirkte, als hätte die Band einen Gedanken entweder noch nicht ganz zu Ende gedacht, oder sei schon wieder mit einer Hirnhälfte beim Nächsten. Vor diesem Hintergrund macht es fast Sinn, dass Bilderbuch gerade den alten Trick mit dem gesplitteten Doppel-Album abziehen und im kommenden Februar „Vernissage My Heart“ als eigenständige, aber irgendwie doch mit dem frisch erschienen Material verbundene LP veröffentlichen. Gerade liegen jedenfalls genügend offene Fäden rum, um daraus dutzende Platten zu machen, doch gerade das macht den Reiz an diesem bisher vermutlich besten Album der Band aus. Ohne dieses elende Buhlen um Authentizität, das Ringen mit Klischees, das Wühlen nach Identität, schicken Bilderbuch uns Fotografien aus der Gegenwart, die sich nie den Schuh anziehen wollen, solche zu sein, weswegen alles verschwimmt, überzogen und sicherheitshalber per Filzstift mit halb erinnerten Anekdoten vollgekritzelt wird.
„Mea Culpa“ erscheint am 04.12. via Maschin Records zunächst ausschließlich digital, im kommenden Februar dann aber auch auf anderen Formaten.
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