Dass die unterschiedlichen Zeitleisten innerhalb der Popmusik nicht mit unserer alltäglichen Zeitwahrnehmung übereinstimmen, dass sich manche Stile in Schleife bewegen während andere eine permanente Gegenwärtigkeit behaupten, darüber müssen wir hier eigentlich nicht mehr sprechen. Von all den aus den Fugen geratenen Genres ist einer der extremsten Fälle aber sicher der eigentlich abgewrackte R’n’B, der sich zu Beginn des Jahrtausends zu einem belangloseren Hip Hop Anhängsel entwickelt hatte, einem potentiellen Lieferanten von Hooks ohne eigene Substanz, von Gegenwart oder gar Zukunft ganz zu schweigen.
Als dann um das Jahr 2010 herum plötzlich Akteure aus unterschiedlichen Richtungen auftauchten und sich bereit zeigten, den guten alten R’n’B wieder auf den Tisch zu packen und ihm ein paar neue Tricks beizubringen, spitzte man in Foren, Blogs und Redaktionen schnell die Stifte und rehabilitierte den Stil mit dem simplen Vorsatz „Future“. Begünstigt wurde dieser Eindruck dadurch, dass sich viele (junge) Produzenten aus der generell als futuristisch wahrgenommenen Electronica Szene wie etwa Arca in diese Renaissance einklinkten und damit einen Hybriden erschufen, der in allen Belangen und trotz deutlich retrospektiver Momente versprach, dass es mit R’n’B endlich wieder weitergeht. Mit diesem theoretischen Versprechen ergab sich jedoch auf lange Sicht ein praktisches Problem: Wie definiert man mit einem bestimmten, sich langsam manifestierenden Sound eine Zukunft immer wieder neu?
Wenn nun Kelela ein Jahr nach Frank Oceans verhuscht zwischen Gitarren hindurchblickendem „Blond(e)“ ihr Debüt Album veröffentlicht, sich dabei ziemlich genau an den Sounds ihrer beiden vorherigen Projekte (das „Cut 4 Me“ Mixtape von 2013, die „Hallucinogen“ EP von 2015) orientiert und trotzdem alle genau hier die Zukunft gehört haben wollen, ist Vorsicht geboten. Zugleich ist „Take Me Apart“ aber auch ein Album, das die Zeichen der Zeit besser gelesen hat als die Debüts vieler anderer Zeitgenossen: Statt schnell abzukassieren als der Hype heiß war und damit zu suggerieren, dass sich das Genre tatsächlich selbst permanent einen Schritt voraus sein kann, zog sich Kelela mit ihrem Kompetenzteam zurück und baute ihren Sound sorgfältig aus.
Klar sollte daher sein, dass hier keine neuen Superlative aufgestellt werden, einfach schon weil ein anderes Verständnis von Zeit herrscht. „Take Me Apart“ wühlt gerne in der Vergangenheit, findet dabei natürlich auch futuristische Synthesizer und verschrobene Beats, schließlich sind auch Arca und Jam City mit an Bord, vor allem lebt die Musik jedoch von einem Spannungsverhältnis aus Physis und Körperlosigkeit, die sowohl nach Gegenwart als auch nach Zeitlosigkeit verlangt. Gestützt wird dieser Eindruck von Kelelas Texten, die sich entlang verschiedener emotionaler Zustände rund um das Feld Liebe bewegen und dabei natürlich nichts neu erfinden, wohl aber dem klanglichen Thema mit Sinnlichkeit und dem Sehnen nach Beständigkeit eine inhaltliche Entsprechung gegenüberstellen.
Glücklicherweise sind diese Spannungsverhältnisse nicht nur theoretisch interessant, sondern münden auch in hervorragendes, buntes Album, das mit der Single „LMK“ zielsicher in den Club zieht, sich mehrmals an klassischem House bedient, nebenbei auch schwierige Beats wie den von „Enough“ oder das abstrakte „Onanon“ bändigt, ebenso jedoch Platz lässt für sanfte Stücke wie das stark mit Kelelas eigener Stimme arbeitende „Better“, an dem passenderweise Romy Madley Croft mitschrieb. Der Einfluss, den sie mit The xx in den letzten acht Jahren auf R’n’B ausübte, wurde gerne mal in Fußnoten gewürdigt, selten jedoch so kreativ aufgegriffen wie auf einigen der hier versammelten Tracks. Zu tun hat das auch damit, dass Kelela einen ähnlich breiten und doch schlüssigen Crossover Ansatz verfolgt wie ihre britischen Kollegen, die zu Beginn des Jahres mit „I See You“ die Bedeutung von elektronischer Musik in ihrem Sound erneut betonten.
Natürlich, in einem Musikverständnis das auf permanente Revolution ausgerichtet ist wirkt „Take Me Apart“ stellenweise gestrig – diesem Eindruck folgend müsste jedoch auch die Frage erlaubt sein, welche Alben 2017 bisher wirklich neue Impulse brachten und wie viele Platten des R’n’B Revivals unterm Strich nachhaltig begeistern konnten. Auch bei Kelela kann man sich natürlich darüber streiten, inwiefern sich zukünftige Generationen an diese Künstlerin erinnern werden können, doch das ist nicht die Maßeinheit in der diese Platte angemessen bewertet werden kann. Es handelt sich hierbei um einen kuratorischen Pop-Ansatz, eine clevere Zusammenstellung die es trotzdem nicht verpasst, eine klare Geschichte zu erzählen. Ob das Genre morgen so klingen wird wie auf „Take Me Apart“? Keine Ahnung. Aber heute klingt die Platte ziemlich gut.
„Take me apart“ erschien am 06.10. via Warp auf Platte, CD und digital.