Das Appletree Garden Festival ist und bleibt ein Traum – ein Märchen zum Anfassen. Während andere Veranstaltungen der Größenordnung – wie Omas Teich oder das BootBooHook – Expansions-Visionen hatten und daran zu Grunde gegangen sind, hütet sich das Appletree vor derlei Quatsch-Ideen und reiht sich in die Riga von Festivals mit Idealen, Charakter und Integrität ein. Haldern, Immergut, Appletree – die solide Troika des guten Geschmacks in Deutschland.
Zauberei auf dem Appletree Garden Festival © The Great Joy Leslie / FacebookMit der abgegriffelten Kartonage unterm Arm, in der sämtliche Pavillon-Stangen rumfliegen, geht es über die Campingfelder. Wer am späten Donnerstag-Nachmittag anreist, muss für ein Stückchen Besiedlungs-Fläche bereits lange suchen.
„Boah, wären die mal mehr zusammengerückt, hätte man sich da noch schön breit machen können“ beginnt sich der innere Platzwart zu melden. Beim richtlosen Rumlatschen – hier mal abbiegen, da mal über eine Zeltschnur stolpern – fallen mir Unregelmäßigkeiten auf, denen ich als erste offizielle ATG-Campinplatz-Leitung sofort den Garaus machen würde. Da haben doch tatsächlich welche einen kniehohen Lattenzaun aufgebaut, Stiefmütterchen gepflanzt und daneben Gartenzwerge platziert. Auf der illegal eingezäunten Parzelle wird dann pathetisch lässig mit expressiven Kopfbedeckungen gechillt. Ist schon klar, welche Bilder da erzeugt werden sollen – ein ironischer Verweis auf diejenigen, mit denen sie sich so gar nicht identifizieren wollen, Spießer und so.. Aber von wegen Ironie – der scheiß Zaun ist und bleibt ein Zaun. Die depperte Aktion vereinnahmt wertvollste Rasenfläche, irgendwer muss jetzt wegen denen im Matsch neben den Klos zelten. Ich werde es aber nicht sein! Oder doch?
Auf dem Wohnmobil-Feld findet sich dann versteckt noch etwas Freiraum. Hier wächst sonst scheinbar Mais – was wohl genau mit den Erzeugnissen dieser Fläche geschieht? Das man aus diesem Boden noch Essen rausholen kann.. Erstaunlich! Platz abstecken und zurück zu unserem Wagen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich der Tragekomfort von Sixpacks im Laufe der Jahre allgemein zum Positiven entwickelt hat. Früher sind die Papplaschen doch gerne mal durchgerissen und wenn nicht, starben die belasteten Finger halb ab. Primitiv bleibt hingegen das Schleppen von Sechserträgern großer PET-Flaschen. Nach kurzer Zeit wird die Plastikschlaufe zu einem fiesen dünnen Band, das sich durch den Zug der 9 kg Gewicht tief in die Hand einschneidet.
Auf dem Rücken transportiere ich noch die zu einer Art Rucksack umfunktionierte geräumige Ikea-Tasche mit Lebensmitteln und unter den Armen klemmt das Zelt und was weiß ich noch was alles. Diese Art nicht zu umgehender Festival-Torturen werden immer wieder aufs Neue verdrängt – Sonnenschein hin oder her, Stimmung kommt so noch keine auf.
Beim Brutzeln der ersten Mahlzeit im frisch eingerichteten Lager bin ich wieder versöhnlich mit mir und der Welt gestimmt. Nach dem Öffnen des ersten Getränks stellt sich der Kopf langsam Richtung Euphorie ein, regelrecht aufgekratzt und vor Vorfreude ganz besoffen geht es anschließend endlich zur Konzert-Area.
Was sind das nur für feine Menschen, die das Appletree Garden immer wieder derart schön herrichten. Und dann diese von göttlichen Designern geküsste Corporate-Identity – Gestaltung auf höchstem Level trifft hier auf Wald und Wiesen.
Hängematten statt beknackter von der Sparkasse präsentierte VIP-Tribünen, überhaupt bleibt das Event eine weitgehend werbefreie Welt. Für gute Sicht stehen Getränke-Kisten herum, auf die man sich abseits der Crowd für einen uneingeschränkten Blick stellen kann. Niemand rennt mit Kameras für irgendwelche Live-Projektion zwischen den Künstlern auf den Bühnen herum.
Lange wurde hinterm Berg gehalten, wer nun die Secret Acts der Veranstaltung sind. Die „Mighty Oaks“ als Primetime-Act am Donnerstag, mit ihren harmlosen Arrangements, waren vielleicht genau der richtige Auftakt für viele Reise-Gestresste. Eine Band, die für freundliche Stimmung sorgt und bei der man sich gut mit den interessanten Büdchen, der Flora und den glücklichen Menschen des Geländes vertraut machen kann.
Es gab das Angebot, sich einen üppigen Blumenkranz als Kopfbedeckung zu flechten, an anderer Stelle konnte man sich gratis mit Glitzerschminke behandeln lassen – ich denke man kann sich vorstellen, wie also ein Großteil der herrlich angetrunkenen Gäste durch die Gegend tanzte.
An Tag zwei wurde ich vom anderen Ende des Campingplatz mit Nana Mouskouris‘ „Guten Morgen Sonnenschein“ geweckt – schon wieder so ein einfallsreicher Campingplatz-Gag, es ist noch keine 9 Uhr. Die zahlreichen mitgebrachten Soundsystems diverser Besuchergrüppchen sind das faule Stück in dem sonnengereiften Knackapfel „Appletree Garden Festival“.
Es ist doch ganz wunderbar, dass Bands nie parallel spielen. Der recht bühnennahe Zeltplatz bietet einem auch beim zwischenzeitlichen Verharren am Gaskocher die Gelegenheit, wirklich keinen Musikact komplett zu verpassen. Warum diese Option ausgeschlagen wird und die direkten Nachbarn plötzlich mit Psytrance gegen BRNS steuern, warum die Typen von Gegenüber bei Reptile Youth mit Queens of the Stoneage kontern – es macht mich sprachlos. Nachts wird dann all die uninspirierte Mukke überall gleichzeitig hochgerissen, obwohl absolute Spitzen-DJs zur selben Zeit auf dem Appletree-Gelände aktiv sind, bei denen man als Feierwütiger sehr gut auf seine Kosten kommen könnte.
Das Appletree Garden ist ein offener, liebevoller Ort. Die Besucherzahl junger Leute dominiert zwar, aber es sind auch Eltern mit ihren Kindern dabei. Außerdem sind hie und da ältere Menschen anwesend, die sich nicht minder interessiert Acts wie Jesper Munk oder Oscar and the Wolf ansehen. Die Nächte auf dem diesjährigen Appletree Garden schlossen ein friedliches Beisammensein aller kategorisch aus – der Idioten-Wettbewerb „Wer hat das lauteste Soundsystem“ duldet niemanden mit Schlaf- oder Ruhebedürfnissen. Die Fusion beispielsweise hatte private Soundsystems lange komplett untersagt – nachvollziehbar, wie ich finde. Niemand wird wirkliche Ruhe auf einem Festival-Campingplatz nachts für möglich halten. Aber was soll man denn bitte von Leuten halten, die ganze PAs anschleppen, Tanzflächen freihalten und Gegenpartys mit den besten Hits von gestern veranstalten.
Das frühe Erwachen am Freitag bringt immerhin den Vorteil mit sich, dass nach den obligatorischen Morgen-Gebräuchen noch ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um mit dem Shuttle zum Freibad zu gurken, vom Dreier zu springen, zu duschen (Yeah!) und anschließend den Rückweg zu Fuß anzutreten: Diverse regionale Bäcker, Imbisse und Restaurants machen auf mit der Hand beschrifteten Zettelchen an Laternen und Stromkästchen auf ihre exklusiven Festivalangebote aufmerksam – sympathisch!
Ein erster handschweißtreibender Höhepunkt des Freitags stellte die Show von „The Great Joy Leslie“ dar. Der Typ kann wirklich zaubern – Kindergeburtstagsstimmung! Bis zum Rand der improvisierten Bühne in einem kleinen Waldstück drängt sich die Meute. Besser kann ein Line-Up nicht beginnen – alles staunt und lacht und fühlt sich plötzlich wieder wie mit acht.
Jake Isaac ist vielleicht der Liebling des kompletten Festivals. Nur mit Gitarre und einem kleinen Fußpad, mit dem er seine Refrains mit ein paar Bassdrumschlägen aufpeppte, brachte er Tausende zum Durchdrehen und Träumen. Den letzten Lovesong dann A capella vorgetragen, ein emphatisches Publikum und ein großer Musiker machen diese fünf Minuten zu einem der interessantesten Festivalmomente meines Lebens.
Jake Isaac und seine Freunde © Jake Isaac / FacebookEin großes Highlight war auch Wandas‘ frühabendliche Show. Ihr Amore-und-Schnaps-Reigen scheint noch nicht abgearbeitet, ein großes neues Album wird kommen. „Bleibt’s genau wie ihr szeid!“ verabschiedet sich Sänger Fizthum im modisch österreichischem Dialekt nach einer exzessiven Show. Er trägt obenrum Lederjacke mit nichts drunter, wer hätte gedacht, dass das mal wieder geil sein kann.
Aurora hievte das ganze Event noch mal auf ein anderes Level und machte Diepholz für gute 45 Minuten zum hippsten Ort der Welt. Was soll man sagen, es war die Show eines Weltstars. Es ist eine merkwürdige Zeit, in der immer wieder geniale Acts zum Vorschein kommen und wieder verschwinden. Wenn das auch mit Aurora passiert, glaube ich an gar nichts mehr. Gleichwertig soll sie eines Tages in einem Atemzug mit Künstlerinnen wie Björk oder Kate Bush genannt werden. „Dear management! Where is my fucking Aurora gym bag?“. Keinerlei Merchandise gab es von ihr zu holen, dabei muss man doch so dringend in die Frau investieren!
Erlend Øye hatte gleich von jedem Bandmitglied seiner Rainbows ein eigenes T-Shirt dabei. Er ist die Verkörperung von Gelassenheit. Die Sonne geht zu raggaeesken Klängen langsam unter, alles ist happy.
Servicewüste Deutschland? Erlend Øye berät kompetent und freundlich im Merch-Zelt © Erlend Øye / FacebookAuf AnnenMayKantereit haben sich viele extrem gefreut und sie wurden nicht enttäuscht. Der Regen setzte bei ihnen leider ordentlich ein und hielt bis zum nächsten Morgen an.
Beim Frühstück am nächsten Tag fliegt plötzlich das Pavillon weg, nicht nur bei uns. Schnell wird es wieder festgeklöppelt und wenige Minuten später passiert das Gleiche noch einmal. Der Boden ist vom ganzen Regen derart aufgeweicht, dass es nicht viel braucht um das herrliche Appletree-Dorf mit ein paar Luftstößen in seine Einzelteile zu zerlegen.
Zwei Typen im Quad brausen über das Gelände, halten in regelmäßigen Abständen an, kleine Menschentrauben bilden sich vor ihnen, denn sie haben etwas zu sagen: „Ein Orkan zieht auf, so viel wie möglich einräumen und im Zelt oder Auto ausharren, bis das Unwetter vorbei ist. Das Programm wird bis auf Weiteres verschoben.“ Oh nein, das habe ich doch alles schon erlebt. Wir beschließen sogar das Bier schon einzupacken und auf jeden Fall noch diese Nacht zurück zu fahren.
Im Radio heißt es dann, dass man sich auf keinen Fall in der Gegend von Bäumen aufhalten soll, die können entwurzelt werden. Der Sturm lässt auf sich warten. Ich frage wahllos Leute, was mit dem Festival sei, ob es Neuigkeiten gibt. Man könne noch nichts sagen, wenn wir Glück haben könnte der Sturm an uns vorbeiziehen, meint die Erste. Na toll. Eine Frau, die mit ein paar Freunden Flaschen sammelt, schaltet sich in das Gespräch ein und meint, Diepholz wäre bisher immer verschont geblieben.
Wir fahren Richtung Stadt, Handys haben hier wieder Empfang. Ein Kollege schreibt, dass das Juicy Beats in Dortmund gecancelt wurde, wie es bei uns aussehe? Jetzt sagen die auf Radio Bremen durch, was alles an Open-Air-Veranstaltungen ausfällt, darunter auch das Kumpel Blase Festival. Noch nie habe ich davon gehört, was für ein geiler Name ist das denn bitte?
Auf der Wetterdienst-Seite ploppen etliche Gefahrenwarnungen auf, wir befinden uns auf einem feuerrot gefärbten Bereich der Deutschland-Karte. Lange wird abgewägt, bisher waren immer die Leute Gewinner, die die Zeichen nicht ignoriert haben und gefahren sind, während ich stets die Challenge antrat und meinen Körper die Nacht lang auf einer halbleeren Luftmatratze im Igluzelt balancierte, mit der Hoffnung nicht ins knöcheltiefe Wasser zu fallen.
Da, wo nachts der einmalige Diepholzer Sternenhimmel zu sehen war, ziehen jetzt mit auffälliger Geschwindigkeit tief hängende grau-schwarze Wolken vorbei.
Das Auto abfahrbereit abseits vom Festivaltrouble geparkt, geht es noch einmal aufs Gelände, bei Soak, Sizarr und Die Nerven wurden wir klatschnass, aber es war schön. Die Sorge, hier könnte gleich alles wegfliegen, die man innerlich auf Abstand zu halten versuchte, hat sich jedoch durchgesetzt. Noch bevor Friska Viljor ihr Set beendeten, verluden wir unsere matschigen Schuhe in eine Plastiktüte und ich drückte mit barem Fuß aufs Gas.
Ob Dirk von Lowtzow tatsächlich wie in meinem merkwürdigen Traum in der Nacht auf Freitag mit einem Helikopter auf der Hauptbühne abgesetzt wurde?
Mit der ganzen Ruhe zuhause kann ich nichts anfangen. Drüben in dem Garten will ich sein. Fernweh nach Diepholz.
– Julian Gerhard (Diskursknutschen)