Wenn etwas 2016 Hochkonjunktur hatte, dann war es Schwarzmalerei. Egal ob Rechtsruck in Parlamenten und auf den Straßen, die US-Präsidentschaftswahl, Attentate von allen Seiten auf allen Kontinenten oder der Tod veritabler Musiklegenden, alles wurde zum Symptom eines schlimmen, schlimmen Jahres. Dass die Gründe vielleicht tiefer liegen, deutete Jonathan bereits in seiner hörenswerten Liste der 100 besten Songs des Jahres an, soll an dieser Stelle aber noch mal deutlich betont werden. Teilweise ist es vielleicht auch nur eine Frage des Blickwinkels, denn gerade musikalisch gesehen war 2016 enrom spannend, vielseitig und ergiebig. Symbolisch dafür steht unsere Liste der zehn besten Alben des Jahres, im Rahmen derer sich etablierte Akteure, neue Gesichter und sich verabschiedende Vorreiter harmonisch ungeachtet der jeweiligen Stile aneinanderreihen. Wer bei all dieser Pluralität das Rennen macht, darf durchaus überraschen; wir freuen uns schon auf eure Kommentare und wünschen vor allem viel Spaß beim Entdecken.
10. David Bowie – ★
Im Nachhinein suchen alle mal wieder die Zuspitzung. Natürlich, der schwarze Stern, „Lazarus“, die Aussage „I Can’t Give Everything Away“: David Bowie verhandelt auf „★„, seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Album, seinen unweigerlich nahenden Tod, es ist mehr Abschied als vollwertiges Album. Dass es Anspielungen auf das Ende gibt soll hier nicht bestritten werden, doch „★“ auf eine derart monothematische Lesart zu reduzieren, wird dem Werk nicht gerecht, das zu seiner Veröffentlichung ja gerade für seine visionäre Kraft nach dem eher altersmilden „The Next Day“ gerühmt wurde. Die Songs durften plötzlich auch mal wieder zehn Minuten dauern, sich an D’n’B sowie vor allem Jazz abarbeiten und dabei maximal wenig Wert auf die Befindlichkeiten von Fans legen. Den Gefallen eines salbungsvollen Abschieds tat Bowie niemandem, stattdessen gab er sich mal manisch, mal trist, aber nie an einem sauberen Abschluss interessiert. Eben diese losen Enden machen „★“ zum besonderen Schlussakkord einer um Kuriositäten nie verlegenen Diskographie und einer auch für sich genommen angenehm rastlosen Platte. (Sebastian)
09. Anderson .Paak – Malibu
Mit „Malibu“ lieferte Anderson .Paak eines unserer meistgehörten Alben des Jahres 2016. Bis dahin kannten den kalifornischen Rapper und Sänger manche schon unter seinem Alias Breezy Lovejoy, doch er blieb weitestgehend unbekannt. Dann öffnete er mit „Malibu“ und seinem Musikstil neue Türen und hat mich verändert, wenn es darum geht, worauf ich bei Musik achte. Manche nennen es Neo-Soul, andere Neo-R&B. Fakt ist, dass seine Musik eine sehr positive Ausstrahlung hat, auch wenn sich inhaltlich viel Schmerz darin versteckt – typisch für Soul. Doch Anderson .Paaks Musik ist zu facettenreich, um ihr ein kategorisches Label zu verpassen. Das einzige Label, das hier passend wäre, ist: verdammt gut! (Roman)
08. Touché Amoré – Stage Four
Bei Hardcore-Alben achte ich eher selten auf Texte. Im Vordergrund steht meist das Geballer. Touché Amoré spielen seit Jahren soliden Post-Hardcore, der trotzdem melodiöse und ruhige Parts unterbringt, aber nie die Wucht verliert. Die Schreimusik klingt dann so angenehm und frisch, dass man sie auch locker im Büro hören kann, ohne allzu sehr abgelenkt zu werden. Wären da nicht die herausragenden Texte auf „Stage Four“. Sänger Jeremy Bolm verarbeitet hier den Tod seiner Mutter. Während die Band durch die Welt tourte, verstarb sie an Krebs im 4. Stadium. Man möchte Bolm am liebsten in den Arm nehmen, denn „Stage Four“ bietet einen intimen Einblick in die Gefühlswelt des Sängers und seiner ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem Tod der eigenen Mutter. Selten hört man so viel Ehrlichkeit, Schmerz und Verzweiflung auf einem (Hardcore-)Album. Genau diese Verletzlichkeit macht es einerseits so großartig und außergewöhnlich. Andererseits ist es dann doch wieder schwierig – trotz seiner musikalischen Leichtigkeit – es einfach so nebenbei laufen zu lassen. Kein Wunder, bei Zeilen wie: „You died at 69 with a body full of cancer / I asked your god how could you but never heard an answer / No one saw it coming, the diagnosis of stage four / The bravest woman I know that survived it once before„. (Erik)
07. Drangsal – Harieschaim
Vertrag beim Majorlabel, großkotzige Attitüde, Lust auf Stress und zu allem Überfluss auch noch ein Video mit Jenny Elvers in der Hauptrolle, welches wiederum Eingang in die Bild fand: Die Art, in der der Hype um Drangsal außermusikalisch forciert wurde, konnte einem bisweilen schon die Lust auf sein Debüt verderben. Doch wer sich dann „Harieschaim“ tatsächlich zu Gemüte führte, der konnte dieser perfekt zwischen Reinszenierung und Bruch pendelnden 80er-Reminiszenz kaum widerstehen. Das mit an Depeche Mode gemahnenden Synthesizern ausgestattete „Do The Dominance“, der zackige Post Punk von „Allan Align“, das erhabene „Love Me Or Leave Me Alone“ oder das aufgekratzt mit Goth-Elementen liebäugelnde „Der Ingrimm“ sind dermaßen überragend, dass man es dem Emporkömmling Max Gruber gar verzeiht, ein paar verzichtbare Nummern auf seinem doch recht kurzen Debüt versammelt zu haben. Wir hoffen auf baldige Wiederholung. (Sebastian)
06. Kate Tempest – Let Them Eat Chaos
Eigentlich dürfte das zweite Album Kate Tempests nicht funktionieren: Über knochige Beats, die vage an UK-Bass geschult sind, breitet die Britin Geschichten aus, die von Untergang, Einsamkeit und Schlaflosigkeit berichten, ohne dabei Wert auf Parameter wie Meme-Tauglichkeit oder Party-Potential zu legen. Wer sich jedoch wiederholt in diesen Wortwust begeben hat, der kann sich der Attraktivität des Materials kaum verweigern. „Let Them Eat Chaos“ ist angriffslustige Anklage, die großen Wert auf Vortrag legt, der sogar noch an Dynamik gewinnt, wenn die Instrumentals Knüppel zwischen die Beine werfen. Wer nach Roman-Debüt und Gedichtband dachte, Tempest habe sich endgültig vom Poetry Slam über Rap in den hochkulturellen Elfenbeinturm verabschiedet, den belehrt dieses Album eines besseren. Mit Gegenwartsbezügen und starkem Storytelling beweget sie sich, ganz im Gegenteil, nah an einer Traditionslinie des Genres, die in den letzten Jahren oft recht stiefmütterlich behandelt wurde. (Sebastian)
05. Bon Iver – 22, A Million
Nach fünf Jahren Abstinenz ist Justin Vernon, der Kopf von Bon Iver, im Herbst dieses Jahres mit einem musikalischen Beben und dem dritten Album der Band zurück. Er erfreut unsere Redaktion und die Welt mit Folkrock in ganz neuen Facetten. Schon beim ersten Hören wird man in einen Strudel aus tiefsten Abgründen und hymnischen Parts hineingezogen. Hell und traurig klingen die 37 Minuten, die sich auf zehn Songs verteilen. Zeit gelassen hat sich Vernon dafür – faul war er jedoch nicht. Und zwei der Zusammenarbeiten aus dieser Zeit hört man auch auf „22, A Million“: James Blake und Kayne West. So sind es die Verzerrung und die Repetition, die in Stücken wie „715 – CreeKS“ oder „22(OVER S∞∞N)“ den Einfluss von Blake deutlich hörbar machen. Industriell und jazzig hingegen mutet „21 MooN WATER“ an – Kaynes Präsenz ist so stark, dass sie sich beinahe greifen lässt.
„22, A Million“ ist viel mehr als der einsame Folkrocker, der mit seiner Gitarre in der Einöde triefende Herzschmerzsongs spielt. Vernon hat in eine Wundertüte hineingegriffen, sich daraus nur die feinsten Inhalte herausgepickt und diese auf die Platte gepackt. Egal wie oft man sich die Platte anhört, etwas Neues entdeckt man dabei garantiert immer: Loops hier, ein Knistern dort oder ein Pochen da. Ein verdienter fünfter Platz. (Helena)
04. A Tribe Callled Quest – We Got It From Here … Thank You 4 Your Service
In der Testspiel-Redaktion scheint Einigkeit darüber zu herrschen, wer das beste Hip-Hop-Comeback des Jahres hingelegt. Der Tielt geht an A Tribe Called Quest, die es als einzige „Comeback-Crew“ in unsere Top 10 geschafft hat. Wer hätte auch damit gerechnet, dass ATCQ auf ihrem sechsten Album „We got it from Here“¦ Thank You 4 Your service“ so dermaßen frisch klingend daherkommen – 18 Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung. „We got it from Here“¦ Thank You 4 Your service“ ist anzuhören, wie sehr ATCQ daraufhin gearbeitet haben, einen spannenden Sound zu finden und zu überraschen. Gelungen ist das allemal. Features von alten Weggefährten wie Busta Rhymes oder von der neuen Generation wie Anderson. Paak und Kendrick Lamar veredeln das Ganze und schlagen elegant die Brücke zwischen alter und neuer Schule. Dass ATCQ auch immer eine politische Band gewesen sind, lässt sich mit einem Blick auf ihre Diskographie schnell ausmachen. Klare Sache, dass sich das in einem Jahr wie diesem nicht ändern kann und ATCQ mit „We The People“¦“ ein wichtiges Statement zur gesellschaftlichen Entwicklung in Amerika beigesteuert haben. Schade, dass es nach Phife Dawgs Tod im März das letzte Album von A Tribe Called Quest bleiben wird. (Malte)
03. Radiohead – A Moon Shaped Pool
Es war schon beachtlich, wie große Teile des Internets und der konventionellen Musikpresse synchron in Wallungen gerieten, als Radiohead im Mai ernst machten und „A Moon Shaped Pool“ nach gewohnt kurzer Vorlaufzeit veröffentlichten. Meinungen verhärteten sich binnen Sekunden, erste Rezensionen gab es bereits Stunden später zu lesen, befeuert von Obskuritäten wie der Anordnung der Stücke entlang des Alphabets, gelöschten Social Media Auftritten und dem Alter mancher Stücke („True Love Waits“ entstand Mitte der 90er, also zu „The Bends“ Zeiten). Was bei diesen hyperventilierenden Reaktionen und der folgenden Ermüdung beinahe zu kurz kam, war die hervorragende Musik, die Radiohead auch auf ihrem neunten Album versammeln konnten.
Wie viel Innovation in dieser Diskographie noch möglich ist, darüber streiten Exegeten schon seit Jahren, und selbst wenn man sich darauf einigt, dass „A Moon Shaped Pool“ in erster Linie eine Collage des bisher Erarbeiteten darstellt, so ist es doch eine clevere wie einnehmende. Alleine der Trick, nach dem dringlichen, hauptsächlich auf Streichern aufgebauten „Burn The Witch“ kein Stück mit vergleichbarer Dynamik zu liefern, zählt zu den großen Hakenschlägen dieses sonst so elegischen Albums, das zwar weniger vertrackt, dafür jedoch weitläufiger als sein Vorgänger erscheint. Thom Yorkes Klagegesang geistert durch Krautrock, zerbrechliche Klavierlandschaften und entspannte Akkustiksessions, bevor das über Jahrzehnte immer wieder modifizierte „True Love Waits“ in einer besonders fluffigen Version diese Platte auf einem emotionalen Hoch beschließt. Nach wie vor das wohl beste neunte Album, das eine große Band je veröffentlicht hat. (Sebastian)
02. Frank Ocean – Blond(e)
Schwer vorstellbar, aber: Zwischen den Sommern 2015 und 2016 hasste die gesamte (Musik-)Welt Frank Ocean. Den beharrlich in Aussicht gestellten Nachfolger seiner allseits gefeierten Großtat „Channel Orange“ wollte er eigentlich im Juli vergangenen Jahres veröffentlichen, doch die Frist verstrich, ohne dass Ocean die Sache irgendwie kommentierte. Die bis dahin so geduldig wartende Masse war nun endgültig verstimmt, so viel durfte sich nicht mal dieser Hoffnungsträger herausnehmen; bei all diesem Unmut schwang natürlich auch die berechtigte Angst mit, vielleicht niemals ein zweites Ocean-Album in den Händen halten zu dürfen. Als sich ziemlich genau ein Jahr später die Zeichen verdichteten, die auf eine Veröffentlichung von „Boys Don’t Cry“ verwiesen, wagte keiner mehr so recht daran zu glauben, bis Frank Ocean an einem Wochenende im August seinen Dreifachschlag folgen lies: „Boys Don’t Cry“ erwies sich dabei als Magazin, dass die Veröffentlichung des visuellen Albums „Endless“ und des zwei Täger später erschienen, regulären Nachfolgers „Blond(e)“ flankierte.
Letzteres stieß zunächst nicht ausschließlich auf Gegenliebe: Zu luftig schienen die Arrangements, ganz anders als die teils doch recht handfesten Hits, die Ocean 2012 geliefert hatte. Nach und nach erschlossen sich jedoch die feingliedrigen neuen Songs, die so gekonnt eine klassische Rock/Pop-Instrumentierung mit Skits, modernen Beats und durch den Reißwolf gejagten Stimmen kombinierten. Selbst wenn diesen Schritt nicht jeder mitgehen wollte, festigte Ocean mit dieser Platte seinen Ruf als wichtigste Stimme der neuen R’n’B -Bewegung, die er zu Beginn der Dekade selbst mitinitiiert hatte. (Sebastian)
01. Turbostaat – Abalonia
Malte traf den Nagel auf den Kopf, als er kürzlich dem Platten-Jahrgang 2016 attestierte, keine klaren Favoriten für die Jahrescharts hervorgebracht zu haben. Natürlich, es gab Beyoncés feministisches Statement „Lemonade“, Frank Oceans eigenwilliges „Blond(e)“, Bon Ivers endgültige Transformation von Folk ins digitale Zeitalter, doch all das schien immer viel zu spezifisch, um einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu produzieren, gerade bei einer so heterogenen Redaktion wie der unseren. Jamie xx‘ perfekter Kombination von Indie-Befindlichkeit, Pop-Momenten und elektronischer Musik gelang im vergangenen Jahr das Kunststück, doch welcher Kandidat sollte nun dieses schwere Erbe antreten? Als sich nach ersten Stimmabgaben abzeichnete, dass es mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit Turbostaat treffen könnte, war ich nicht direkt darauf vorbereitet, den vorliegenden Text zu verfassen.
Dabei ist „Abalonia“ das geborene Konsens-Album einer Band, die sich in den vergangenen Jahren aus den Jugendzentren der Republik ihren eigenen, zentralen Platz im inländischen Rock-Geschehen erarbeitet hat. Dosenbierpunk fabrizieren die Husumer schon lange nicht mehr, doch so Indie-Rock-affin wie auf ihrem sechsten Album klangen sie eben bisher auch nie. Eingebettet sind die Songs in ein loses Konzept, dass auf semi-fantastische Weise die Probleme unserer Zeit verarbeitet und verschiedene Fluchtmotive mit einer potentiellen Utopie kombiniert. Zur Illustration dieses ambitionierten Projekts ziehen Turbostaat alle Register: Es gibt treibende Signature-Riffs, es gibt Krach, es gibt Ambient-artige Passagen und es gibt Hits, die sich auf den folgenden Konzerten nahtlos neben etablierte Klassiker einreihten. Eben ein Album für alle, das von einer Band, deren T-Shirts zahllose Oberkörper in deutschen Universitäten und Szenelokalen schmücken, eigentlich längst überfällig war. (Sebastian)