Am Ende des Jahres aus den besten Platten des Jahres ein Fazit zu destillieren, das über deren Qualität hinausgeht, gleicht ein bisschen dem Lesen in Eingeweiden: Kurz bevor das Ausgangsmaterial alt und unbrauchbar wird, stochert man darin rum, legt sich Kontexte zurecht und hofft, dass irgendwie alles seinen Platz findet und ein stimmiges Bild ergibt. Oft gelingt das ziemlich gut, 2018 war hingegen ein ziemlich heterogenes Jahr – zumindest, wenn man auf unsere redaktionell gewählte Liste der 20 besten Platten des Jahres blickt. Dort gibt es bereits verstorbene Legenden und viele frische Gesichter, brachialen Hip Hop und feingeistigen Avant-Pop, politisch aufgeladenen Punk und autobiographische Einsichten. Entwicklungen der vergangenen Jahre lungern noch herum, neue Konzepte kündigen sich an, doch auf zwei bis drei Nenner will sich all das partout nicht bringen lassen. Schlimm ist das nicht weiter, denn genau dazu gibt es ja diese netten Texte, die jede Platzierung individuell einordnen und euch zudem Hinweise darauf geben, wie unser Jahr 2018 aussah, welche Musik wir gehört und welche Phänomene wir geschätzt haben.
20. We Were Promised Jetpacks – The More I Sleep The Less I Dream
Als Tool-Fan ist man das leidige Warten auf neues Material gewohnt. Vier Jahre Pause zwischen zwei Alben ist trotzdem eine Hausnummer, die man ungern in Kauf nimmt. Die ein oder andere Band ist da schon komplett aus dem musikalischen Gedächtnis verschwunden. Nicht so bei We Were Promised Jetpacks. Mit „The More I Sleep The Less I Dream“ hievt sich die Band wieder auf die Bildfläche der Indiemusik. Mittlerweile sind die vier Schotten um die 30 Jahre alt, beim Debüt „These Four Walls“ waren sie noch auf der Uni und haben gerade die „Teen-Jahre“ hinter sich gebracht. Mit dem vierten Album wollte man wieder zurück zu den Wurzeln, wie uns Sänger Adam erst kürzlich im Interview verraten hat. Das ist ihnen teilweise gelungen, da die Musik wieder so simpel und ohne viel Schnickschnack wie auf dem Debüt von 2009 daherkommt. Doch vielmehr stechen die Weiterentwicklung des Sounds und der Band an sich heraus. Die Jetpacks sind ruhiger und unaufgeregter geworden, trotzdem noch voller Energie und Rhythmen, die das Tanzbein zucken lassen. Fazit: Bandpause sinnvoll genutzt, Comeback ausgezeichnet gelungen! (Erik)
19. MGMT – Little Dark Age
Die Maschinen ächzen, die Melodien plustern sich auf, und wieder mal weiß man nicht ganz genau, was Andrew Van Wyngarden und Ben Goldwasser eigentlich im Schilde führen. „Little Dark Age“ ist nach Fluchtversuchen durch labyrinthische Psychedelic-Platten das erratische Synth-Pop-Album, das nach „Oracular Spectacular“ nicht unbedingt mehr Sinn gemacht hätte, wohl aber an die Zeit knüpft, als MGMT unfreiwillig Indiekids mit Synthiehits beliefert haben. Vielleicht ist es daher eher als Korrektur zu lesen, wenn den eingängigen Songs hier regelmäßig das Instrumentarium wegbricht, als müsste das Duo die Referenzen – trotz klar erkennbarer Fähigkeiten als Songwriter – zu Klump hauen, um nicht als schlichte Nostalgiker missverstanden zu werden. (Sebastian)
18. Rolling Blackouts Costal Fever
Nach zwei EPs, die bereits Lust auf mehr gemacht haben, liefern die Australier Rolling Blackouts Coastal Fever 2018 mit „Hope Downs“ endlich ihr Debütalbum bei Sub Pop ab. Was auf „Talk Tight“ und „The French Press“ angestoßen wurden, hat die Band mit „Hope Downs“ konsequent weiterentwickelt: 10 knackige, eingängige Indie-Rock-Songs, vereint auf einem Album, dass keinen Platz für Längen und Tiefen hat. (Malte)
17. Odd Couple – Yada Yada
Nicht nur der Albumtitel ist fantastisch. Auch die Songs darauf wie „Bokeh 21“, „Katta“ und „Fangdannan“ sprechen ihre eigene mantraartige Sprache. In Krautrock-Manier gehalten mit einer guten Prise Synthesizer, Garage, Heavy Blues und viel Experimentierfreude. Da dürfen sich Stücke auch ihre unkonventionellen sieben Minuten Zeit nehmen, um uns auf einen farbenfrohen, geilen Trip zu entführen. (Helen)
16. Idles – Joy As An Act Of Resistance
Brexit, Rechtsruck, zunehmende Fremdenfeindlichkeit – 2018 gibt es viele Themen, die wütend machen. Da ist es nicht verkehrt mal ordentlich Dampf abzulassen. Wie das funktioniert, haben die Briten Idles meiner Meinung nach dieses Jahr am besten bewiesen. Während sich Frontmann Joe Talbot an gesellschaftlichen Missständen jeglicher Couleur abarbeitet, ballert, sägt und rumpelt der Sound dazu in rotziger Post-Punk-Manier vor sich hin. Doch statt den Untergang zu besingen, machen Talbot Lyrics Hoffnung, so dass sich am Ende dieses energiegeladenen Werks wieder Optimismus verbreitet. (Malte)
15. Mitski – Be The Cowboy
Wenn die Welt dir zuhört, zerschlag dich in Fragmente, verirr dich in Referenzen und verwisch deine Spuren, damit dir niemand folgen kann. Für ein Album, das eigentlich ein paar potentielle Hits auf Lager hat, ist „Be The Cowboy“ erstaunlich schwer zugänglich, entzieht sich immer wieder, deutet Redundanzen an, die sich bei genauerem Hinhören als Verlegenheitslösung des eigenen, milde überforderten Klanggedächtnisses erweisen. In Wirklichkeit bedient Mitski in jedem Song einen anderen Referenzrahmen, gibt wenig auf Verse-Chorus-Verse-Strukturen und schafft es, zwischen ungelenkem Syntheziser, Disco-Referenz, Schomzette und Dissonanz nicht den Kopf zu verlieren. (Sebastian)
14. Prince – Piano & A Microphone 1983
Was habe ich hier die Werbetrommel für die erste posthume Album-Veröffentlichung von Prince gerührt, in der Hoffnung, dass Teile der Testspiel-Redaktion am Ende des Jahres „Piano And A Microphone 1983″ in die Top 10 wählen. Nun ist es immerhin Platz 14 geworden. Weitere Veröffentlichungen werden hoffentlich folgen und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Qualität dieser im Team erkannt wird.
Bis dahin enthält „Piano And A Microphone 1983″ die intimsten Aufnahmen die jemals von Prince offiziell veröffentlicht wurden. So nah war man seinem musikalischen Genie noch nie. Wahren Fans drückt das Album die Tränen in die Augen. (Marc)
13. Tiny Moving Parts – Swell
Was passiert, wenn drei Jungs aus Minnesota – die Gebrüder Chevalier und ihr Cousin Dylan Mattheisen – eine Band bilden, zeigen die Tiny Moving Parts schon eindrucksvoll seit 10 Jahren. Wenn dem Emo-Math-Rock-Trio dann auch noch der Erfolg Recht gibt, kommt ein Album wie „Swell“ dabei heraus. Eine Ode an das Scheitern und Weitermachen, das sich Finden und über sich Hinauswachsen und die Liebe – egal ob erwidert oder eben nicht. (Tim)
12. Cloud Nothings – Last Building Burning
Erst im Oktober ist das aktuelle Album der Clevelander Indie-Rocker erschienen und doch hat es sich einen Platz auf dieser Liste verdient. Aber kann man das überhaupt noch als Indie-Rock beschreiben? Nachdem man die Punk- und Hardcore-Wurzeln der Cloud Nothings auf „Life Without Sound“, dem vergangenen Album von 2017, nur in wenigen Passagen erahnen konnte, ist das Quartett auf „Last Building Burning“ zu gewohnter Schnelligkeit und Härte zurückgehert. Wirklich bemerkenswert ist hierbei die Albumstruktur. Auf fünf Kracher folgt „Dissolution“, ein Zehnminüter, der sich in schier endlosem Feedback und Trommelgeräuschen auflöst, um Platz zu machen für zwei weitere hochenergische Tracks in Emo-Manier zu machen. Dieses Album sollte man wirklich an einem Stück durchhören. Selten habe ich ein Album gehört, auf dem die Energie über 35 Minuten hinweg so hoch und treibend gehalten wird. Wirklich stark! (Hendrik)
11. Marteria & Casper – 1982
2018 war erneut ein Jahr, dass ganz im Zeichen des Hip-Hop stand. So zählte bei Spotify nach wie vor Deutschrap zu den beliebtesten Genres der deutschen Spotify-Nutzer. Raf Camora, Bonez MC und Capital Bra sind die meistgestreamten Künstler 2018. Natürlich gab es auch einige Kollaboalben in den letzten eineinhalb Jahren: Sido & Kool Savas, Bonez MC & Raf Camora, Kollegah & Farid Bang, Aytee & Fear, Ali As & Mo Trip, Crack Ignaz & Young Krillin, Pöbel MC & Milli Dance, Manuellsen & Micel O, Supreme.Frost & Illflow, Jump & Run, Said & Brenk Sinatra, Luke & Swift, Blokkmonsta & Perverz, AzudemSK & Orange Field, Blokkmonsta & KDM Shey und noch ein paar Alben mehr. Wer soll da denn noch durchsteigen? Wer soll die alle hören? Und wer kann mit den kommerziell sehr erfolgreichen und sogenannten Straßenrap-Alben wie z.B. „Palmen aus Plastik 2“ etwas anfangen? Ich nicht, aber ich habe es immerhin versucht. Auch live habe ich es mit Bonez mehrfach versucht. Geht nicht. Es geht einfach nicht. Das verstehe ich nicht mehr.
Apropos live: Live zählen Marteria und Casper zu den besten Acts der Republik. Das haben sie mir nicht nur im Interview erzählt, das ist so, und hat man zuletzt in Paris gesehen. Auf ihr gemeinsames Album „1982“ konnten wir uns in diesem Jahr einigen. Auch wenn es ihr Album nicht in die Top 10 geschafft hat, die zwei Bros sind unser gemeinsamer Deutschrap-Nenner 2018. Eine wirkliche Überraschung ist aber ihrer Kollegin auf Platz 8 gelungen. (Marc)
10. Kurt Vile – Bottle It In
Nachdem dem gemeinsamen Album mit Courtney Barnett im vergangenen Jahr, ist unser Lieblingsslacker Kurt Vile 2018 mit „Bottle It In“ wieder auf Solopfaden unterwegs. Gekonnt lullt Vile seine Hörer in atmosphärische Songs, die gefühlt vollkommen ziellos, mitunter bis zu 10 Minuten lang vor sich hin zu plätschern scheinen – und das ist an dieser Stelle absolut positiv gemeint. Auch wenn der Amerikaner seinen Lo-Fi-Indie-Sound mit wenigen, dezenten elektronischen Elementen aufpeppt, ist mir dieses Jahr kein tiefenentspannteres Album unter die Ohren gekommen. (Malte)
09. Death Grips – Year Of The Snitch
Tja, gerade wenn man dachte, dass die Death Grips keinen mehr drauf setzen konnten, kommen sie mit einem Album wie „Year Of The Snitch“ um die Ecke. Das musikalische Bollwerk mag nicht die beste Platte der Band sein – hust – „The Money Store“ – hust – dafür aber seit langem die experimentellste. Und das soll bei den Death Grips etwas heißen. Zach Hill, Andy Morin und natürlich MC Ride sprengen auf der Platte die Genre-Grenzen, wie noch nie zuvor: Electro trifft auf Krautrock, trifft auf Psychedelic, trifft auf Rap, trifft auf Jazz und so weiter und so fort. Auf 13 Tracks ergibt sich somit vollkommene Unvorhersehbarkeit, nur eines ist klar: Was auch immer der nächste Song bereithält, es ist geil! (Tim)
08. Haiyti – Montenegro Zero
Mit ihrem neuen Album „Montenegro Zero“ hat Haiyti nicht nur eines der erfrischendsten Rap Alben der letzten Jahre geliefert, sondern sich auch als der Newcomer überhaupt formiert. Vor allem durch ihre durchweg polarisierende Eigenart wurde Haiyti 2018 immer wieder zum Gesprächsthema auf WG-Partys. Aber auch die Schaffung des Genres „Gangsta-Pop“ hat für überregionales Interesse hochkarätiger Musikjournalisten gesorgt. Wenn man sich ein bisschen in den Medienrummel reinliest merkt man schnell wie viel Interpretationsspielraum Haiyti mit ihrer Musik eigentlich zulässt. Die Langhorner Rapperin, die eigentlich nur kreischend erklärt, dass sie noch nie im Berghain war wird plötzlich zur Projektionsfläche für Sozialkritik. Und das ist auch gut so! Anfang des Jahres haben wir die Frage gestellt, ob Haiyti nun von der Straße im Mainstream angelangt ist, ob die Kleine nun Kasse macht und ob sie damit am Ende des Tages auch klar kommen wird. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr, stellte sie selbst im Interview fest. Festhalten kann man am Ende des Jahres: Haiyti provoziert immer noch. Das tut sie nicht oberflächlich und primitiv, sondern auch musikalisch. Ihre schrille Art, Rap und Pop zu verbinden, bereichert das Genre Deutschrap nachhaltig. Möge Hayiti auch 2019 noch die Gemüter Spalten…oder sich auf ihr Kunststudium konzentrieren. (Henry)
07. Drangsal – Zores
Noch mehr als für sein Debüt gilt: „Zores“ ist am schönsten, wenn man die ersten Schocks überwunden hat und sich einfach mal auf die Musik einlässt. Das clevere Verlagern der 80er-Referenzen, das Aufspüren der sanften Bande zwischen Neuer Deutscher Welle, The Cure und The Smiths, das Neuverhandeln des Verhältnisses zwischen Pop und Schlager, all das macht Drangsal zu einem interessanten Künstler, aber es sind das sanft-schmiergelnde „Mh-hm“ in „Und du, Vo. II“, die pappkartoneske Gitarre im Refrain von „Turmbau zu Babel“, das scheppe Saxophon in „ACME“, der ungelenke Refrain von „Magst du mich (oder magst du bloß noch dein altes Bild von mir)“ und etliche weitere Momente, die ihn langfristig als ziemlich einzigartigen deutschen Pop-Musiker etablieren werden. Und sein zweites Album trotz mancher Schwäche auf eine Ebene mit dem Debüt hieven. (Sebastian)
06. Delta Sleep – Ghost City
Na immerhin hat“™s eines meiner persönlichen Top-3-Alben in die Liste geschafft – und das mit Recht! Mit „Ghost City“ haben Delta Sleep ein Meisterwerk abgeliefert. Die Platte ist ein wunderbar in sich stimmiges Emo-Rock-Album, das hervorragend zeigt, was für Hymnen in diesem Genre stecken. Immer wieder bauen sich Songs vom verträumten Schwelgen zur emotionalen Explosion auf – nicht zuletzt dank der Schlagzeugarbeit, die mit ihrem Eigensinn besonders hervorsticht. Am Ende steht „Ghost City“ als sehr gut gemischtes und hervorragend ausgewogenes Album für sich. (Tim)
05. Kero Kero Bonito – Time ’n‘ Place
„i’m expecting their next album to sound like death grips“, mutmaßt der Top-Kommentar unter einem inoffiziellen Youtube-Upload des zweiten Kero Kero Bonito Albums, und so wenig der halsbrecherisch-aggressive Rap-Entwurf des kalifornischen Trios mit dem Bubblegum-Post-Internet-Synth-Pop-gone-Alternative-Rock des britischen Trios gemein hat, so nachvollziehbar scheint der Vergleich, achtet man auf die Netzstruktur der jeweiligen Musik und den abrupten Wechsel, den Letztere mit „Time’n’Place“ hingelegt haben. Blubbernd ist diese Musik noch immer, süßlich-sanft sowieso, aber dazwischen grätschen eben immer wieder angezerrte Gitarren, Feedback, desolate Tonträger und – nun – treibende Drums. Kero Kero Bonito sind damit von den fleißigen PC-Music-Adepten zu einer Band geworden, die sich souverän mit dem Erbe der 10er Jahre beschäftigt und nebenbei den tattrigen Patienten Alternative in die Gegenwart rettet. (Sebastian)
04. Tocotronic – Die Unendlichkeit
Begonnen hat die Geschichte einer der wohl wichtigsten deutschen Bands in Cordhosen und Trainingsjacken 1993 an der Universität Hamburg. Man war dagegen, man wollte Teil einer Jugendbewegung sein. Diese unruhige, aufbäumende Art haben die trotzigen Mitbegründer der Hamburger Schule-Bewegung im Laufe von zwölf Studioalben nicht abgelegt. Spannende Ausflüge in elektronische Sphären und poppige Gefilde sorgten dafür, dass jedes Album seinen eigenen Charme und auch seine eigene Notwendigkeit untermauerte. Dabei haben sie jedoch nie die Grundzutat ihres Erfolgs vergessen: anspruchsvolle Arrangements und tiefgründige Texte. Auf „Die Unendlichkeit“ blicken von Lowtzow, Müller, Zank und McPhail ganz ohne Kitsch auf die menschliche und musikalische Geschichte ihrer Band zurück. Von den ersten Riffs im Jugendzimmer und der pubertären Melancholie bis hin zu dem Umzug nach Hamburg – „Die Unendlichkeit“ ist mehr als nur ein Album. Es ist eine Rockoper, eine Autobiografie, eine Erzählung, in der sich wahrscheinlich jeder wiederfindet. Wir haben im vergangenen Winter mit Dirk von Lowtzow über das Album gesprochen. (Hendrik)
03. Deafheaven – Ordinary Corrupt Human Love
Im Juni war man sich nicht ganz sicher, ob Deafheaven nun edngültig zum Gimmick geworden waren. Wie George Clarke da in „You Without End“ hinter Classic Rock Gitarre und Klavier plötzlich zu krakelen anfängt, vollkommen deplatziert, sowohl was seinen Platz im Mix als auch die Genre-Erwartungen angeht, das kann sich einer gewissen Komik erstmal nicht erwehren, gerade wenn man bedenkt, wie sehr auch der Rest der Platte nach Wegen sucht, das Publikum zu überwältigen, ohne in die ewig gleiche Metal-Drescherei abrutschen zu müssen. War das hier nun jenes fiese Industrieprodukt, vor dem wir uns immer fürchteten, seit „Sunbather“ uns ehedem mit seinem pinken Cover angestrahlt hatte? Mit dem gebotenen Sicherheitsabstand eines halben Jahres lässt sich diese Angst verneinen – nichts auf „Ordinary Corrupt Human Love“ ist ein Marketing-Gag, alles ist wichtige Entwicklung, mindestens ebenso richtig wie die vorläufige Thrash-Verschärfung, die Deafheaven noch auf „New Bermuda“ vorgenommen hatten.
Den Knüppel haben sie noch immer im Anschlag, viel lieber suhlen sie sich jedoch in den ausgewaschenen Klamotten ihrer Heimat (im schuhstarrenden „Near“, im ausgeblichenen „Honeycomb“), ziehen sich ein paar Riffs fürs Stadion aus dem Ärmel („Canary Yellow“) oder gleich in düsterem Glam mit Chelsea Wolfe durch die Nacht. Wichtige Platte im Werdegang einer Band, die sich bislang keinen Fehltritt erlaubt hat. (Sebastian)
02. Die Nerven – Fake
Das Pendant zu fake ist frei. „Immer nur dagegen, aber gegen was?“, fragen Die Nerven aus Stuttgart bei Songs wie „Frei“ und prügeln, schrammeln, schreien, wimmern ihre Wut, Angst, Resignation und Verwirrung heraus. Die Antwort „Lass alles los, gib alles frei“ setzt das Trio auch live auf der Bühne um und reißt das Publikum wie einen Orkan um. Es geht nicht um Antworten auf die großen Fragen, sondern Katharsis und Gefühle, die wir alle nachempfinden können. So different die Charaktere innerhalb der Band sind, so explosiv ist ihr neues Album. Sie schaffen mit Liedern wie „Der Einzige“ und „Neue Wellen“ deutlich eine Schere zwischen Noise und Pop und wehren sich gegen Vergleiche zum Post-Punk der 80er Jahre. Dafür ist ihr Album zu aktuell, zu sehr in unserer Zeit verankert. Die Erben dieser Epoche sind sie dennoch und auch Assoziationen mit Krautrock oder Prog-Metal sind nicht von der Hand zu weisen. Welchem Genre sie letztendlich auch zuzuordnen sind – „Finde niemals zu dir selbst“ singt Max bei „Niemals“ und drückt damit aus, dass Starrheit und Verharren nicht das Ziel, nicht die Lösung sind. Aufwühlend, mitreißend und treibend katapultiert „Fake“ Die Nerven wohlverdient mit ihrer Platte auf unseren Platz 2 und lässt uns in freudiger Erwartung welche Weiterentwicklung sie auf ihrem nächsten Album vornehmen. (Helen)
01. DJ Koze – Knock Knock
„Knock Knock“ klopft es an die Chartspitze. DJ Koze hat den Anschluss ans allseits gefeierte „Amygdala“ (2013) gefunden – mit einem Produzentenalbum, das ähnlich vielschichtig angelegt ist und sich zugleich einem ganz anderen Klangkosmos bedient. Mit Vocal-Samples von Künstlern wie Bon Iver wird eine Internationalität ausgestrahlt, an der die wenigsten hiesigen Releases auch nur schnuppern durften. Dass gleichzeitig anstelle von Koketterie die zwar bekannte, aber sich immer wieder neudefinierende Selbstironie des Hamburgers durchscheint: wunderbar!
Ein Album mit psychedelischen Ausschlägen, dessen Sound einen trotz der finsteren Momente vor allem wohlig umgibt und ganz automatisch zum Lächeln und Tanzen bringt. Zeitlos? Jede Wette: Man sieht sich in zehn, oder sagen wir besser, in hundert Jahren! Ein bisschen Größenwahn wird im Angesicht dieses großen Wurfs ja wohl erlaubt sein. (Julian)