Das Ruhrgebiet-Marketing will den Imagewandel vom schmuddligen Malocherstandort zur Kultur- und Bildungsmetropole. 2018 wird in Bottrop die letzte Revier-Zeche geschlossen und eine Geschichte von rund 150 Jahren Stahl und Kohle hat sich endgültig auserzählt. Eines der Flagschiffe jener Reformbemühungen ist die Ruhrtriennale.
Actress | Ritournelle 2017 © Anna SellmannRitournelle nennt sich die große Eröffnungsparty des regelmäßigen Spätsommer-Festivals, das seit 2002 in alten gigantischen Industrieanlagen, internationale zeitgenössische – primär darstellende – Kunst präsentiert. Unter der Intendanz von Johan Simons wurden hierfür in den letzten drei Jahren Acts wie Peaches, Moderat, The Notwist und Caribou eingeladen. 2017 hießen die Headliner S O H N und Nicolas Jaar.
S O H N | Ritournelle 2017 © Julian GerhardEin Mitfeiern dieses Openings vom jährlich mit rund 11,5 Millionen Euro subventionierten Ereignis Ruhrtriennale, wird durch den Ticketpreis (VVK 45 €), nicht unbedingt für den einfachen Arbeiter erleichtert. Und so läuft es auch allgemein im Ruhrgebiet, mit seinen rund 5 Millionen Einwohnern: Während Dortmund und Bochum manch ein Prestigeprojekt mit Sang und Klang zelebrieren und ihnen das weltoffene Metropolen-Flair sicher ist, stehen Herne, Waltrop und Oer-Erkenschwick in ihrer zerlumpten Infrastruktur am Eingang und feilschen um Ermäßigungen – bis der Sicherheitsdienst kommt.
Nicolas Jaar | Ritournelle 2017 © Anna SellmannEinst stellte die Bochumer Jahrhunderthalle die örtliche Gaskraftzentrale dar – von hier aus wurde der Bezirk mit seinen Stahlwerken mit Energie versorgt. Es ist einfach spannender den Schlag einer elektronischen Bassdrum in diesem Koloss zu lauschen, als in Hallen, die für das Austragen von Konzerten errichtet wurden. Das Gebäude selbst hat etwas zu erzählen.
S O H N spielt vor allem Songs aus seinem 2014er Album Tremors, welches wohl als eine der großen Offenbarungen dieses Musikjahrzehnts in Erinnerung bleiben wird. Die Perfektion, die darin besteht, dass seine Songs live praktisch deckungsgleich wie die Studioproduktion klingen, ist Fluch und Segen zugleich. Ich persönlich freue mich über jede noch so kleine Variation in Stimme und Tempo dieses Musikgenies.
Nicolas Jaar triggert mit seinem Auftritt Emotionen, die bei mir seit Akte X verschütt gegangen sind. Umgeben von Laptops und analogen Synthesizern bewegt er sich in einer Art Raumschiffkapsel und forciert hierbei geheimnisvolle Klänge, die sich überlagern. Nach einer Zeit wirkt das ziemlich random, eine Weile später wiederum erwies sich die Monotonie als ein Konzept, das sein Potential jenseits der üblichen 3-Minuten-Song-Dramaturgie entfaltet.
Ein merkwürdiger Höhepunkt war das Herunterlassen einer Leuchtröhre, die an Seilen einen eigenartigen minimalistischen Tanz aufführte, bevor sie wieder unter der Decke der Jahrhunderthalle verschwand.
Bis 5 Uhr in der Früh wurde auf der Elektrofete noch auf drei weiteren Floors des Geländes, zu den Sets von Efdemin und vielen anderen Szenestars, zum Tanze eingeladen.
Ob die Ritournelle in dieser Form auch unter der neuen Intendanz (2018 – 2020) von Stefanie Carp erhalten bleiben wird? Daumen drücken.
– Julian Gerhard
Jahrhunderthalle | Ritournelle 2017 © Julian Gerhard