StartMusikDieter Thomas Kuhn und die versunkene Welt des Dieter Thomas Heck

Dieter Thomas Kuhn und die versunkene Welt des Dieter Thomas Heck

Dieter Thomas Kuhn | Zeltfestival Ruhr 01.09.2017 © Julian Gerhard

Als der Roy-Black-Fernsehfilm „Du bist nicht allein“ mit Christoph Waltz 1996 erschien, war ich in kindlicher Blauäugigkeit davon überzeugt, dass es praktisch kein größeres Leid auf der Welt geben kann, als Schlagersänger sein zu müssen, obwohl man Rockstar werden wollte. In den 90ern führten Guildo Horn, als zerrupfter Paradiesvogel, und Dieter Thomas Kuhn, der für Schmalzübersättigung stand, das große Schlagercomeback an. Wie Roy Black, wollte auch Kuhn der Schlagerisolation entkommen, er wirkte an prominenter Stelle in dem Spielfilm-Flop „Der Trip“ mit, in dem ausgerechnet seine Stimme übersynchronisiert wurde und ging zum Jahrtausendwechsel mit eigenen Songs an den Start, die in den Strukturen der damaligen Musikindustrie keinen Absatz fanden. Die Realität für Kuhn heißt: Ohne Schlager kein Erfolg. Bis heute tourt er mit „Die kleine Kneipe“, „Über sieben Brücken musst du gehn'“ und „Amore mio“ über die Großveranstaltungsbühnen der BRD und befriedet seine treue Gefolgschaft.

Dieter Thomas Kuhn | Zeltfestival Ruhr 01.09.2017 © Julian Gerhard

Mit neonfarbenden Plastikblumen im Haar und ein paar Piccolos im Schädel zu „Schön ist es auf der Welt zu sein“ mitjohlen – ganz wie bei den alten Hippies also… nicht. Karikaturesk werden bei den Shows Symbole einer Protestkultur („Flower Power“) von Band und Publikum annektiert und dabei die zeitgleich erschienenen unpolitischen Lieder des Mainstreams gesungen, der dem Weltgeschehen meinungslos oder gar affirmativ gegenüberstand. Eine merkwürdige Unschärfe entsteht bei dieser bizarren Überlagerung entstellter historischer Staats- und Gegenkultur – ein Kulturanthropologe sollte sich das dringend einmal anschauen.

Dieter Thomas Kuhn | Zeltfestival Ruhr 01.09.2017 © Julian Gerhard

Dieter Thomas Kuhn holt eine versunkene Welt des Biederen und Steifen wieder an die Erdoberfläche und verklärt ihre Ideale als die Verkörperung kosmopolitischer Liebe und des reinen Friedens. So nachdrücklich er den Weltfrieden auch zwischen „Griechischer Wein“ und „Im Wagen vor mir“ heraufbeschwört – nur ein Teil seiner Fans erkennt darin eine aufrechte Predigt, die Überzahl versteht die ganze Peace-Nummer als Karnevals-Trinkspiel und übrige Senioren schalten zwischen den Refrains, die sie in einen Rausch der Heimatfilmromantik versetzen, auf Durchzug.

Die Frage die wirklich beißt, ist: Warum denke ich, man muss den ganzen Zirkus um der Wahrheit Willen kühl distanziert verreißen und verspüre gleichzeitig, dass eine tiefe Faszination für diesen Blödsinn in mir lauert. Ich brauche dringend Hilfe! Es scheint, als sei Dieter Thomas Kuhn eine Art Magier, ein fieser Sektenführer, dem man folgt, auch wenn einem der Verstand beteuert, dass er verschwörerisches Unheil verbreitet und einen in die Hölle führen wird (Hitparade). Ist das dieses berühmte „Charisma“, das mächtigen Schurken immer postum nachgesagt wird und das ihnen Tür und Tor für einen teuflischen Plan öffnet?

– Julian Gerhard