Während in den letzten Jahren viele Festivals aufgegeben mussten und auch die Platzhirschen mit dem überhitzten Markt zu kämpfen haben, entwickelte sich das Reeperbahn Festival in den letzten Jahren prächtig und vermeldete jedes Jahr steigende Besucherzahlen. In diesem Jahr sollen es bis zu 32.000 Musikfans und 3.400 Fachbesucher werden, die verteilt über die vier Festivaltage auf St. Pauli von Club zu Club ziehen, um sich Konzerte, Lesungen und Vorträge anzusehen. Dabei haben die Macher auch im 10. Jahr wieder einige Neuheiten am Start. Ein guter Zeitpunkt also, um sich kurz vor dem großen Jubiläum mit Alex Schulz zu treffen, der, inspiriert von der SXSW, das Festival 2006 ins Leben gerufen hat, mit sich ihm ausgiebig über das Reeperbahn Festival zu unterhalten und einen Blick zurückzuwerfen.
Ich treffe Alex in einem Restaurant, natürlich auf St. Pauli. Mit dem Grünen Jäger, Terrace Hill und Uebel&Gefährlich liegen drei der 70 Locations in unmittelbarer Sichtweite, was mir aufs Neue deutlich macht wie hoch die Clubdichte rundum die Reeperbahn ist, welche dem Festival seine einzigartige Atmosphäre verleiht. Alex, der bereits anderthalb Tage voller Pressegespräche in den Knochen hat, wirkt entspannt. Die Vorbereitungen laufen planmäßig, das Team ist eingespielt und bis auf die Premiere des Klubhaus gibt es wenig, was die Organisatoren nicht bereits kennen. 13 Leute kümmern sich mittlerweile das ganze Jahr um die Organisation des Festivals. So hat der Chef auch mal Zeit sich zum Schnack mit der Presse zu treffen.
Alex Schulz: Ich mache mittlerweile weniger inhaltlich im Vergleich zu den Anfangstagen als wir noch zu dritt waren. Mein Job hat mittlerweile sehr viel mit Koordination und Organisation zu tun und natürlich auch mit dem Repräsentieren des Festivals.
Voran denkst du nach 10 Jahren Reeperbahn Festival besonders gerne zurück?
Ein Highlight war sicherlich 2006 Tomte vor mehreren Tausend Musikfans auf dem Spielbudenplatz spielen zusehen, auch wenn die erste Veranstaltung wirtschaftlich eine Katastrophe war. Seit 2009 haben wir mit Ray Cokes außerdem ein wiederkehrendes Highlight, der mit seinem Showkonzept eigentlich die wichtigsten Elemente des Festivals vereint, weil da Fachbesucher und Musikfans zusammenkommen. Damit ist die Show bis heute so etwas wie die Essenz des Gesamtkunstwerks Reeperbahn Festival. Das war sicherlich ein guter Wurf und wir freuen uns, dass sich Ray bei uns immer noch sehr wohl fühlt.
https://youtu.be/sUAqihdLgd4
Auf welchen Künstler bist du rückblickend besonders stolz, da er beim Reeperbahn Festival noch als richtiger Newcomer unterwegs war und mittlerweile sehr bekannt ist?
Bon Iver haben wir bereits 2008 zum Reeperbahn Festival geholt. Wir haben ihn in Austin bei der SXSW gesehen, da hatte er noch nicht mal einen Agenten für Europa. So was gibt es heutzutage eigentlich gar nicht mehr. Einen Jake Bugg oder Ed Sheeran hatten wir sicherlich auch sehr früh im Programm, aber deren Weg war da eigentlich schon vorgezeichnet. Die wären auch ohne das Reeperbahn Festival in Deutschland durchgestartet, aber bei uns konnte man sie im Rahmen von sehr intimen Shows erleben.
Nach 10 Jahren Reeperbahn Festivals dürftet ihr mittlerweile alle spannenden Locations auf St. Pauli bespielt haben. Gibt es eine Spielstätte, die noch nicht im Programm war, die du aber immer schon mal für das Festival haben wolltest?
Ja, die gibt es und dieses Jahr hat es endlich geklappt. Ich freue mich sehr, dass wir dieses Jahr am Samstag mit William Fitzsimmons ein Konzert im Michel veranstalten werden. Es gibt bestimmt viele Leute, die schon mal im Michel waren, aber nicht im Rahmen eines solchen Festivals. Und es gibt bestimmt viele, die noch nie drin waren.
Was macht den Erfolg des Reeperbahn Festivals aus? Warum hat es sich in den letzten 10 Jahren so prächtig entwickelt?
Es gab von Anfang an den Wunsch ein eigenes Programm für das Fachpublikum zu machen, auch wenn es das zunächst so explizit nicht gab. Da standen die Booker und Agenten dann immer an den Bars oder vor den Clubs und haben da verhandelt. Das konnte man ganz gut beobachten. Als wir dann mit dem Fachprogramm für Live-Entertainment gestartet sind, fiel das genau in der Zeitraum als der Markt für Live-Musik förmlich explodiert ist und die Einnahmen durch Plattenverkäufe immer weiter den Bach runtergingen.
Meine Idee war immer, dass wir nicht nur neue Künstler zeigen oder Lesungen und Filme, sondern dass wir den Fachbesuchern auch neue Geschäftsmodelle aufzeigen. Anfangs waren das eher banale Themen wie „Festivalmarkt Europa“ und heute reden wir über spannende digitale Varmarktungsmodelle wie Soundexchange. Im Grunde ist es die gesunde Mischung aus Fachbesuchern und Musikfans, die das Flair des Festivals ausmacht und das geht eben nur wenn man keine Messe macht, wo es gekaufte Auftrittsslots gibt. Die Konzerte müssen vor einem echten Publikum stattfinden vor dem die Künstler sich beweisen können. Wir schauen uns die Künstler, die uns die Exportbüros vorschlagen genau an, laden aber nur die Acts, die auch zu uns passen. Wir glauben, dass diese Filterfunktion, die wir hier inne haben, sehr wichtig für den Erfolg des Festivals ist. Die Partner in den Exportbüros fanden das anfangs zwar komisch, haben aber mittlerweile verstanden, dass sie davon auch profitieren.
Mit der Digitalkonferenz Next wird das Konferenzprogramm dieses Jahr noch breiter. Ist das Reeperbahn Festival mittlerweile die europäische SXSW? Oder vielleicht sogar die bessere Alternative?
Ich bin sehr gespannt wie gut das zusammenpasst und angenommen wird. Die Organisatoren der Next sind auf uns zugekommen und wir waren gemeinsam der Meinung, dass wir das mal versuchen sollten. In den letzten 10 Jahren haben wir uns unsere Existenzberechtigung sowohl bei den Musikfans als auch beim Fachpublikum hart erarbeitet. Dennoch wird man die SXSW nicht ersetzen können. Allein auf Grund des großen nordamerikanischen Markts, dem großen Engagement der Briten dort und der Lage zu Mittel- und Südamerika. Ich denke wir sind daher eine starke Ergänzung zur SXSW und wollen uns auf dem europäischen Markt als wichtigste Plattform für die Musikwirtschaft durchsetzen.
Der Festivalmarkt ist momentan total überhitzt. Pleiten, horrende Headlinergagen, aber ihr feiert einen Besucherrekord nach dem nächsten. Warum tangiert euch die aktuelle Situation nicht?
Wir sind ja eher eine kleine Nummer und gehören nicht unbedingt in die klassische Festivalkategorie. Bei uns wird ja u.a. mit dem HELGA Award schon auf die vergangene Festivalsaison zurückgeblickt. Schon aufgrund des Termins schwimmen wir nicht im großen Sommerfestival-Haifischbecken mit. Natürlich haben aber auch unsere Besucher ein beschränktes Budget für Konzerte und gehen vielleicht eher zwei Wochen vorher zum Lollapalooza in Berlin und nicht zu uns. Es wird aber nicht so verglichen wie bei den großen Sommerfestivals. Dafür ist der Charakter des Reeperbahn Festivals zu anders.
Zusätzlich werdet ihr durch öffentlich Gelder unterstützt. Wie viel Überzeugungsarbeit war notwendig, um diese Unterstützung zu bekommen?
Wir kriegen aus drei unterschiedlichen Bereichen öffentliche Gelder. Dem Hamburg Marketing, der Hamburger Kulturbehörde und vom Bund. Zuerst begriffen haben es 2006 die Leute von Hamburg Marketing. Ohne die hätte es das erste Reeperbahn Festival gar nicht gegeben. Für die waren wir natürlich auch wichtig, weil sie ja unter anderem den Auftrag haben Hamburg als Musikstadt zu vermarkten. Da kam ein Festival, das dann auch noch das Wort Reeperbahn im Namen getragen hat genau richtig. Schließlich ist der Begriff international genauso bekannt wie Hamburg selbst. Als wir dann das Fachprogramm aufgebaut haben, war auch die Kulturbehörde dabei, da sie für die Musikwirtschaft in Hamburg zuständig ist. Der Bund kam 2011 als letztes hinzu.
Wird den von Seiten der öffentlichen Geldgeber reingeredet?
Nein, strategisch und inhaltlich mischen die sich nicht ein. Sie sehen, dass wir mit dem Konzept sehr erfolgreich sind, was natürlich in ihrem Interesse ist. Als Teil des 10-köpfigen Beirats fungieren sie für uns jedoch als Ratgeber. Im Verhältnis wird der Anteil der öffentlichen Gelder zum privatwirtschaftlichen Teil jährlich geringer.
Mal zur Musik: In welchem musikalischen Genre gibt es deiner Meinung nach momentan die spannendsten Entwicklungen?
Ich bin ja selber nicht der Programmmacher, aber ich merke, dass Neofolk im vergleich zu den Vorjahren etwas abgeebbt ist und sich dafür immer mehr elektronische Einschläge durch alle möglichen Genres ziehen. Das reicht von der Contemporary Classic bis hin zu den Singer-Songwritern.
Um die 400 Künstler werden dieses Jahr beim Reeperbahn Festival auftreten? Eine letzte Frage: Wie viele Konzerte kannst du selber sehen?
Drei. Zumindest nehme ich mir das vor. Meistens schaffe ich zwei angeknabberte und ein ganzes.
Tut das weh?
Ja, aber ich habe mich daran gewöhnt. Anfangs fühlte sich das sehr komisch an, aber mittlerweile nutze ich dann die SXSW oder das Eurosonic Festival in Groningen, um dort die Künstler zu sehen, die ich bei uns nicht sehen kann.