Eine Berliner WG-Küche am vergangenen Wochenende. Junge Menschen sitzen zusammen, trinken das ein oder andere Bier und freuen sich auf die Künstler, die sie noch auf der Bühne sehen werden. Ausgelassene Stimmung; dem Alltagstrott bei einer großen Musikparty entfliehen. So hätte es sein sollen. Wir wissen, es kam alles ganz anders. Das Lollapalooza-Festival im Hoppegarten ist dem Ruf vom kaputten Berlin, das ohnehin nichts auf die Reihe bekommt, mehr als gerecht geworden.
Denn statt einer ausgelassenen Party hat die Hauptstadt am Wochenende das Chaos zelebriert. Statt Fachgesimpel über die auftretenden Musiker dominierten die Gespräche über An- und Abreise, zu wenige Toiletten und Warteschlangen vor Essens – und Getränkeständen. Wer konnte auch damit rechnen, dass die über 80.000 Menschen, die sich zuvor ein Ticket gekauft hatten, auch tatsächlich auf dem Festival aufschlagen? So ereignete es sich also, dass sich viele Besucher – aufgrund nahezu traumatischer Erfahrungen vor allem bei der Rückreise am Samstagabend via S-Bahn – am zweiten Festivaltag früher auf den Weg machten und die Situation so entschärft wurde. Das Ganze wurde ad absurdum geführt, als die Headliner The XX das Lolla bei seiner dritten Auflage, mit der dritten Location in der Hauptstadt, vor einem ihnen davonströmenden Publikum spielen müssen. Das liegt einzig an der Panik vor der Panik. Der Panik davor, dass wieder Ausgänge gesperrt werden müssen, weil zu viele Menschen das Gelände gleichzeitig verlassen wollen, der Panik davor, dass man sich mit weiteren Tausenden Leidgenossen über die enge Brücke zur S-Bahn quetschen muss, der Panik davor, in der Menge zu kollabieren, zu stürzen oder einfach überrannt zu werden oder auch nur der Panik davor, wieder drei bis vier Stunden auf eine S-Bahn oder einen Shuttlebus gen Innenstadt warten zu müssen. Taxen fahren nicht. Vorbestellungen werden nicht angenommen. Warum auch sollte sich ein Taxifahrer freiwillig eine Fahrt nach Hoppegarten antun?
Doch zurück zum Wesentlichen. Denn richtig, da war ja noch was“¦ Es hätte so schön sein können, in den WG-Küchen von Berlin und auf der Festivalwiese. Verkatertes Philosophieren darüber, welche Band am Vorabend nun die bessere gewesen ist. Doch nicht nur angesichts der Umstände fällt es schwer, musikalische Lobeshymnen anzustimmen. Ein Großteil der Auftritte war ganz ok, durchschnittlich im Besten Sinne und wenig überraschend. Die Beatsteaks sind immer noch eine großartige Live-Band. Doch waren sie eben auch schon mal besser. Marteria liefert gewohnt mit einer krassen Show ab. Seine Leistung: Der Rostocker bringt auch nicht Rap-Fans auf den Plan – und als er sich auch noch Casper mit auf die Bühne holt, wissen die Girls nicht mehr, wen sie nun mehr lieben sollen. Soul-Liebling Michael Kiwanuka sorgt für Gänsehaut sowie ein erstes musikalisches Highlight und Mumford and Sons beweisen, dass sie auf die großen Bühnen gehören. AnnenMayKantereit und Cro präsentieren sich solide - geschmackstechnisch scheiden sich hier allerdings die Geister. Auf die Foo Fighters hingegen können sich alle einigen. Die dürfen statt der gewohnt drei Stunden in Berlin nur zwei Stunden spielen, liefern aber die Portion Rock`n`Roll, die viele Zuschauer dann doch noch versöhnlich stimmt (seht hier ihr Konzert).
Bereits im Vorfeld des Festivals traten beim Blick auf das Line-Up große Fragezeichen auf: Wen möchten die Veranstalter mit dieser Mischung erreichen? Nach zwei Tagen Lollapalooza ist das klarer. Den meisten Besuchern geht es nur in der Nebensache um das, was sich auf den Bühnen so abspielt. Auch mal auf ein Festival gehen, ohne im Zelt schlafen zu müssen, die schicke H&M-Coachella-Kollektion wie auf einem Laufsteg ausführen und bei einer Runde im Riesenrad hoffen, dass der Glitzer im Gesicht dem Fahrtwind standhält. Viele haben den Festivalbesuch mit einem Kurztrip in die Hauptstadt verbunden. Das ist gut für den Tourismus, doch aufgrund der Masse an Werbeständen – Snapchat hat sogar einen Snapbot auf dem Gelände platziert – bekommt man ein Gefühl dafür, wie es sein muss, wenn man alt und nicht mehr ganz im Besitz der geistigen Kräfte auf einer Kaffeefahrt gefangen ist: Man wird mit Werbung bombardiert, bevor man zum Vergnügen kommt. Und dafür hat man auch noch eine gute Stange Geld hingeblättert.
Mit dem Olympiapark haben die Veranstalter des Festivals für das kommende Jahr eine Location gefunden, die auf Veranstaltungen dieser Größenordnung ausgelegt ist. Eine weitere Möglichkeit einiges besser zu machen und Berlin als die Stadt zu präsentieren, die sie eigentlich ist: weltoffen, feierwütig und musikliebend. Sonst könnten sich irgendwann doch wieder München oder Hamburg die Hände reiben. Es wäre nicht das erste Mal.
Fotostrecke Lollapalooza Berlin 2017