Zwischen dem 8. und 10. August erleben die Besucher auch in diesem Jahr große Momente auf dem Festivalgelände und abseits davon. Das diesjährige Line-up lockt die Besucher mit Namen wie Loyle Carner, Michael Kiwanuka, Idles, Sophie Hunger und Gurr. Den Charakter des Festivals prägt das Musikprogramm in den Spielarten Indie, Folk, Pop, Rock, Hip-Hop und Jazz. International, vielseitig und abwechslungsreich. Mit der 36. Ausgabe beweist das Haldern weiterhin seinen konstant guten Geschmack. Das Festivalerlebnis in Haldern fühlt sich ein wenig wie Kurzurlaub an und tatsächlich unterbrechen einige in der Ferienzeit ihren Urlaub gerne für die drei Tage Festival am Niederrhein. Während auf der Hauptbühne, dem Niederrheinzelt und dem Spiegelzeit auf dem Festivalgelände der Schwerpunkt liegt, wird auch die Kirche, das Jugendheim oder die Pop Bar im Ort bespielt. Aber auch der Bauer am Rande des Campingbereichs oder der naheliegende See werden für das leibliche Wohl oder ein paar Bahnen im kühlen Nass angesteuert. Über das Rundum-Wohlgefühl muss sich wirklich niemand sorgen.
Zum Haldern Pop Festival zu fahren, fühlt sich ein wenig wie Urlaub an. In ein Dorf mit einem Bauern, dessen Kühe auf der Weide weilen, einer Kirche, einem kleinen Supermarkt, Jugendzentrum und Bahnhof, der raus in die weite Welt führt. Doch es sind nicht die Bewohner, die gehen, sondern Besucher, die kommen. Was sie hier suchen? Das Haldern Pop Festival, das mit 7.000 Besuchern eine überschaubare Größe jenseits einer Massenveranstaltung besitzt. Der Charakter des Dorfes überträgt sich auf den des Festivals. Hier hilft man sich untereinander, nimmt Rücksicht, freut sich über unbekannte Gesichter und nimmt diese herzlich in Empfang. Haldern ist eine heile Welt, aber keine engstirnige. Es ist der ideale Ort für Entdeckungen, spirituelle Erfahrungen und ein Gemeinschaftsgefühl, das von friedlichem Miteinander geprägt ist.
Für einen der vielen ekstatische Momente sorgt das aus Los Angeles stammende Quintett Wand in der Haldern Pop Bar, die in diesem Jahr 10- jähriges Jubiläum feiert. Psychedelischer Garage Rock auf engstem Raum. Nach über einer Stunde Schlange stehen – übrigens ein Trend bei den Locations, mit begrenzter Kapazität – quetscht sich in die Pop Bar, wer herein kommt. Dabei zählt bei Wand das Hör- mehr als das Seherlebnis. Für Sänger Cory Hanson könnte es sogar noch kleiner sein, neckt er das Publikum zwischen zwei Liedern, das gerade wieder aus seiner Trance erwacht ist. Das Set fühlt sich kurzweilig an, was bei ihrem ausufernden Spiel kein Wunder, aber eine angenehme Überraschung ist. „Walkie Talkie“ von ihrem im April erschienen Album „Laughing Matter“ gehört dazu, aber auch „Blue Cloud“ vom 2017er „Plum“. Ein intensives Konzert, das Euphorie hinterlässt.
Einen weiteren Euphorie-Moment beschert eine sehr junge Band aus London. Der Name der Newcomer Black Midi wird in diesem Jahr zunehmend häufiger geraunt. Die Mitglieder haben gerade das zwanzigste Lebensjahr überschritten – auf dem Roskilde Festival waren sie in diesem Jahr die jüngste Band – ihre Musik hingegen klingt zeitlos. Wie passend, dass die Talking Heads als Pausenfüller vor ihrem Konzert laufen, die geistigen Väter in Kuriosität und Experimentierfreude. Nicht umsonst hat Black Midi einen ihrer Songs so genannt, den sie für das Haldern Pop-Publikum spielen. Auch „953“ oder „Ducter“ geben sie zum Besten. Ihre Musik schwillt an und ab, der Gesang schwankt zwischen Gesang, Geschrei und Genuschel. Ihr Prog-Rock steht der Bühne im Spiegelzelt gut.
Auf eine Band habe ich mich persönlich am Meisten gefreut: Kadavar aus Berlin. Das Trio gibt auf der Hauptbühne ein klassisches Stoner Rock-Konzert der großen Gesten. Bassist „Dragon“ malmt so sehr mit dem Kiefer , dass man ihm einen guten Zahnarzt wünscht, immer wieder hat er ein Knurren auf den Lippen, der überschüssigen Energie, entledigt er sich durch zahlreiche Luftkicks. Mit samtener schwarzer Schlaghose und breitkrempigen Hut werden die 70er nicht nur modisch wieder zum Leben erweckt. „Tiger“ am Schlagzeug starrt immer wieder sekundenlang ins Publikum visiert einen für das Publikum unsichtbaren Fixpunkt bevor er die Sticks über seinen Kopf kreuzt, um sie dann voller Kraft niedersausen zu lassen. „Lupus“ an der Gitarre trägt oberkörperfrei eine Weste, so dass sich sein Brust-Tattoo entblößt, und fragt nach den ersten Liedern die Zuschauer, ob sie nun endlich warm sind. Ein Moshpit vorm Sonnenuntergang untermalt die sphärische Stimmung zu „Die Baby Die“ und „Into The Wormhole“. Der Pathos, der Look, der Sound sind eine Dedikation an eine Ära und Lebensgefühl.
Die politische Message fehlt beim Festival nicht. Es sind vor allem Künstler aus Großbritannien, die die politische Lage in Europa nicht unkommentiert lassen wollen. Stand vor zwei Jahren noch Kate Tempest auf der Hauptbühne, sind es in diesem Jahr die Idles. Als sie beginnen, kommt die Frage auf: Ist das Musik oder ein Shred? Herrlich schräg bugsieren sie sich durch ihr Konzert. Live ein wilder Punk-Stammtisch, bei dem die Gitarristen abwechselnd von der Bühne springen, rein ins Publikum. Der Publikumskontakt gestaltet sich irritierend-schön, als Gitarrist Mark Bowen halbnackt und verschwitzt in kurzer Blümchenhose seine „Fans“ in den Arm nimmt. Neben Ekstase und Kontrollverlust bleiben politische Visionen nicht außen vor: „long live the bravery of the immigrants and the european union“ ruft Sänger Joe Talbot. Ihren Song „Mother“ kündigt Talbot als „feminist song“ an und widmet das Konzert dem Haldern Pop-Chef Stefan Reichmann, dessen Vision er liebt. Es ist ihm eine Ehre sich in diesem Jahr die Bühne mit Bands wie Whitney, Fountaines D.C. und The Chats zu teilen: „that was a man sharing hin feelings for a better future“. Auf eine bessere Zukunft hofft auch der Londoner Hip-Hop-Act Loyle Carner. Auch bei ihm hat die Mutter einen großen Einfluss auf das musikalische Schaffen und Sein des Künstlers. Er widmet ihr gleich mehrere seiner Songs und kommentiert die britische Politik mit „Fuck Brexit“.
Der Special Guest des Festivals spielt am Donnerstagabend zu vorgerückter Stunde. Die aus Hamm stammenden Giant Rooks spielen zum dritten Mal auf dem Festival, aber zum ersten Mal auf der Hauptbühne. „Danke, dass ihr am Start seid, das schätzen wir sehr“, bedankt sich Sänger Frederik Rabe mehrfach. Das Publikum bedankt sich durch Mitsingen und Tanzen zurück und lässt sich auch auf die beliebten Konzert-Spielchen mit Sitzhocke und darauf folgendem Hochspringen ein „vielen Dank, dass ihr den Scheiß mitgemacht habt“, grinst Rabe breit.
Das Haldern ist dem*der Liebhaber*in gewidmet, hat sich dem*der Entdecker*in verschrieben und existiert durch Passion und Verwirklichung. Damit ist am Ende auch die unbefleckt wirkende Wiese im Campingbereich erklärt, die die Besucher*innen vorbildlich verlassen. Die Haldern Pop-Besucher*innen sind nicht nur true, sondern eben auch better was das Schonen der Umwelt und Ressourcen betrifft. Das funktioniert auch ohne Müllpfand, aber eben mit einem Bewusstsein und Respekt für Mitmenschen und Umwelt.
In diesem Sinne: Stay true not better! Fuck Brexit