Genre-Bezeichnungen sind beim Schreiben über Musik wie Mitarbeiter an einer Tourismus-Information: Sie helfen Menschen weiter, die zum ersten Mal da sind und Orientierung brauchen. Doch was ist, wenn beim Beschreiben der Musikrichtung ein Schlangenwort entsteht, das die Ausmaße einer Anakonda annimmt? So geht es mir mit The Hirsch Effekt. Und genau deswegen liebe ich diese Band, für ihre Vielfalt. Artcore trifft es dann als Genre-Bezeichnung am ehesten. Ein Gesamtkunstwerk von der Vielfalt der Musik, den poetischen deutschen Texten bis hin zum Artwork und der ekstatischen Bühnenperformance. Würde jemand alle zwei Minuten in den Raum kommen und immer nur ein paar Sekunden mithören, würde er wahrscheinlich denken, dass mal eine Rock-, Metal- oder Screamoband und mal ein Kammerorchester spielen würden. Das sind The Hirsch Effekt. Musik aus tausenden Tönen, Vielfalt in Tempo und Rhythmus. Nachdenklichkeit dank kryptischer Texte über Beziehungen. Kontrollierte Wutausbrüche in Stimmen und Gitarreneffekten. Und immer wieder Metal- und Hardcoregeballer. Musik, so komplex, dass sich jeder Cent Eintrittsgeld auszahlt. Früher hätte man Nils, Ilja und Moritz Honig ums Maul schmieren können, wenn man sie als die deutschen „The Dillinger Escape Plan“ bezeichnet. Allerspätestens mit ihrem dritten Album „Holon: Agnosie“ haben sie sich einen Sonderstatus erarbeitet, der sie selbst international unvergleichbar macht. Im ausverkauften Hamburger Hafenklang werde ich dessen wieder einmal Zeuge.
Albumstream: Kolari „French Grammar“
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Schon die Vorband winkt mir mit dem Zaunpfahl zu: Das kann nur ein guter Abend werden. Kolari, energisch vorgetragener Post-Hardcore aus Hamburg. Ein guter Grund mehr, nach Hamburg gezogen zu sein. Vor allem der Sänger Stefan schafft es, die Dynamik der Musik aufs Publikum zu übertragen, indem er sich immer wieder beim Singen unter die Leute mischt. Einer steht am Rand und starrt auf sein Smartphone. Stefan positioniert sich vor ihm und schreit ihm eine halbe Minute lang Englisch ins Gesicht. Keinerlei Reaktion. Das ist also ein Smombie. Was für eine traurige Welt.
Video: The Hirsch Effekt – Cotard (Live)
Der Gang zur Bar zwischen den Bands war rückblickend betrachtet ein Fehler. Das Hafenklang ist ausverkauft, zu Gast sind überwiegend Menschen, die naturgemäß größer als ich sind. Die Lichter gehen aus, blaues Licht durchdringt den Raum. Ein Einspieler eines Radiomoderators offenbart die selbstironische Seite der Hirsche: „The Hirsch Effekt sind der Beweis, dass aus Hannover nur Scheiße kommt.“ Das Licht geht wieder aus, 90 Minuten Ekstase finden ihren Anfang in Stroboskop-Licht. Zeit, die mit der „Holon“-Trilogie leicht und abwechslungsreich zu füllen ist. Ruhige Parts, das Publikum macht sich hörbar. Ich schließe meine Augen, genieße den Augenblick und Worte wie „Und Antworten spart man sich, das Nicht-Funktionieren des Pulsmessers, das einfach viel zu stumpf ist.“ Grelle Lichter, Schreie. Ich zucke kurz zusammen. Die Musik erfordert höchste Konzentration und Aufmerksamkeit. In Breakdown-Momenten, die mit chaotischen Mathcore-Parts voller ungerader Takte Hand in Hand gehen, bewundere ich den ein oder anderen Menschen im Publikum. Wie schaffen die es bloß, bei Musik mit ständigem Rhythmus- und Dynamikwechselgewitter beim Headbangen und Abgehen trotzdem stilvoll und zielsicher auszusehen?
Als ich The Hirsch Effekt zum ersten Mal beim Maifeld Derby 2013 sah, wirkten sie auf der Bühne teils schüchtern. Drei Jahre später erlebe ich drei Aktivposten auf der Bühne. Nils und Ilja arbeiten regelmäßig die Länge der Bühne ab und spielen ihre technisch anspruchsvolle Musik dennoch mit einer Leichtigkeit, die ich so selten erlebe. Ich frage mich, wie viele Meter Moritz auf der Bühne zurücklegen würde, wenn er nicht am Schlagzeug sitzen müsste. Stroboskop-Licht und verschiedene Farben unterstreichen die Energie der Musik und die Intensität der deutschen Texte, die sich auch wunderbar als Gedichte eignen. In diesen traurigen Tagen nutzen The Hirsch Effekt ihre Bühne, um an Lemmy Kilmister zu gedenken: Ein Roadie schraubt das Mikro hoch, Bassist Ilja mimt die Lemmy-Pose und stimmt Ace of Spades an. Sänger Nils stellt sich auf die Hände im Publikum und setzt seine komplexen Gitarrenparts mit einer bemerkenswerten Ruhe fort. Am Ende verteilt er Grüße an seinen Namensvetter Nils und fragt das Publikum, wer noch jemanden grüßen will. Neben mir rufen zwei Kerle lauthals „Bono! Bono!“
Bild mit freundlicher Unterstützung von The Hirsch EffektKurz vor halb 12. Das Konzert ist vorbei, ich blicke mich um. Ich schaue in glückliche Gesichter, sehe diskutierende Menschen mit glitzernden Augen und eine Handvoll Ungeduldiger, die sich schon während der Zugabe ihre Jacke geholt haben. Die Hitze der Menge verschiebt sich Richtung Bar und Merch-Stand. Dort steht eine leicht überforderte Frau, die in mehrere Richtungen verteilen und gleichzeitig ihre Liste abhaken muss. Wenig später springt ihr Sänger Nils bei. Sein Gesicht steht stellvertretend für viele im Hafenklang: Leicht verschwitzt und mehr als zufrieden.
Albumstream: The Hirsch Effekt „Holon: Agnosie“
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