StartKritikenTocotronic - Das rote Album (Kritik)

Tocotronic – Das rote Album (Kritik)

Es soll doch keiner erzählen, Tocotronic hätten dem Diskursrock entsagt. Das Kunstwerk als Cover, der nicht vorhandene Titel, ein erstes Stück namens „Prolog“, das riecht doch alles verdächtig nach Hamburger Schule. Auch wenn hier plötzlich gehaftet wird „wie ein Sticker an der Tür“ und Personen mit Zucker verglichen werden, von Lowtzow hat als Texter immer auch ungelenke Stilblüten wie die „Diplomarbeit über Empfindlichkeit“ im Gepäck. Wenn Tocotronic also nun, mit grauen Haaren und auf ihrem elften Album, über Liebe singen, dann ist das nur bedingt mit der Kehrtwende zu vergleichen, die etwa Blumfeld mit „Old Nobody“ vor 16 Jahren hinlegten. Bei Tocotronic gehört die permanente Entwicklung zum Konzept, und den Pop haben sie ohnehin schon auf ihrem Selbstbetitelten umarmt. Und dass sie trotz deutlicher Modifizierungen immer noch nach sich selbst klingen, das machte schon „Prolog“ als erste Single deutlich.

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Die Gitarre rückt da dezent in den Hintergrund, Bass und Schlagzeug bestimmen den Sound, über dem von Lowtzow die Losung des Folgenden herausgibt: „Liebe wird das Ereignis sein“. Thema und Ton des Albums sind damit vorgegeben, das Klangbild ist an New Wave mit Bands wie Joy Division und The Smiths angelehnt, produziert haben Stammproduzent Moses Schneider und Jungspund Markus Ganter. Das Ergebnis mutet teils wahrlich bizarr an: Wenn von Lowtzow im mit „Love Will Tear Us Apart“ Gedächtnis-Synthesizern ausgestatteten „Die Erwachsenen“ etwa im Refrain sich und seine Kumpanen unverhohlen als Babys bezeichnet, dann hat das schon etwas Komisches. Dieser unbekümmerte Duktus passt zu der Jugendlichkeit, die in den Texten suggeriert wird und eine radikale Abkehr vom altersbewussten Vorgänger „Wie wir leben wollen“ darstellt. Von Lowtzow schlüpfte da nicht nur für einen Song in die Rolle der alternden Diva, er klagte auch über den Körper und die Folgen eines Lebens in permanent simulierter, aber nicht real existierender Jugend. Auf dem roten Album wird zwar chiffriert, aber doch klar erkennbar geliebt und kopuliert. Es handelt sich bei den Songs nicht um eine Abhandlung über Beziehungen und die Probleme, die diese mit sich bringen, sondern eher um die Beschreibung von Gefühlen. Der Diskurs findet also tatsächlich in diesem Fall nicht direkt statt, er spielt und spielte sich vielmehr hinter den Kulissen ab. Trotz Veröffentlichung am 1. Mai und der roten Farbe des Covers finden sich politische Bekentnisse nur im Stück „Solidarität“, doch selbst hier geht es eher um das Gefühl an sich, gepackt in Streicher und eine sanfte Gitarre.

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Die Musik ist ohnehin sehr angenehm auf dem roten Album.  „Ich öffne mich“ ist nach dem sanften Einstieg ein großer Popsong, während Rick McPhails Gitarre in „Rebel Boy“ sanft rockend glänzen darf. Nichts ist hier wütend, hart oder verstimmt, durchweg frönen Tocotronic dem Wohlklang. Nur von Lowtzow wirkt in dieser lockeren Umgebung teils zu verkopft, seine Worte fügen sich nicht immer perfekt in das Ambiente ein. Seine Sternstunde erlebt er im Hidden Track, der den mehr oder weniger offiziellen Titel „Date mit Dirk“ trägt. Eingeleitet und begleitet wird es von Geplätscher und Gezwitscher, das den idyllischen Boden bereitet für ein Treffen des Sängers mit sich selbst, das zunehmend surrealer wird und morbide Züge trägt. Es ist ein seltsamer Moment von entrückter Schönheit, als hätte man hinter dem Album versteckt tatsächlich jenes Kleinod gefunden, in dem sich die Begebenheiten des Songs ereignen. Es sind diese verspielten Momente, die auch das elfte Tocotronic Album zu einem Genuss machen und bei aller Unbekümmertheit die Meisterschaft der Gruppe herausstellen.

8,5/10

Das rote Album der Halunkenbande Tocotronic ist theoretisch ab dem 1. Mai im Handel erhältlich. Gestreamt werden kann es bei uns, gekauft bei eine Händler eures Vertrauens.

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