Kaum eine deutsche Band hat eine musikalische Bewegung so sehr beeinflusst, wie Tocotronic die „Hamburger Schule“. Seit den 1990er Jahren Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail Musik, die den Spagat zwischen Zeitlosigkeit und -geschehen meistert. Selbst in Zeiten von Autotune und singenden YouTubern gröhlen Jugendliche in Städten und Dörfern Songs mit, die schon ihre Eltern mitgegröhlt haben. Mit beeindruckender Leichtigkeit legen Tocotronic eine Relevanz an den Tag, die man bei vielen anderen Bands und Künstlern schmerzlich vermisst. Am 26. Januar erscheint mit „Die Unendlichkeit“ das zwölfte Studioalbum der Band. Wir haben im Vorwege mit Sänger Dirk von Lowtzow über Konzeptalben, Songwriting als Therapie und Spaß an der Arbeit gesprochen.
Dirk von Lowtzow im Studio von Rick McPhail (Foto: Marc Ehrich)Auf eurem letzten Album, „das Rote Album“, ging es thematisch um die Liebe. Jetzt, auf „Die Unendlichkeit“, dreht sich alles um euch als Menschen und auch um die Geschichte der Band Tocotronic. Wie kam es, dass ihr euch für zwei aufeinanderfolgende Konzeptalben entschieden habt?
Für uns ist es fast unabdingbar, dass es so eine Art künstlerisches Konzept für jedes Album gibt. Ich persönlich denke per se in Alben. Wenn man das Gefühl hat, dass sich ein paar Leute Gedanken gemacht haben und alles irgendwie zusammen passt, dann ist das ja auch ganz schön. Aber es ist auch eine gute Beobachtung von euch, dass ihr erkannt habt, dass „das Rote Album“ bei der Entstehung des aktuellen Albums eine gewisse Rolle gespielt hat. Schon auf dem vergangenen Album konnte man bei Songs, wie zum Beispiel „Ich öffne mich“, autobiografische Tendenzen erkennen. Davon ausgehend habe ich als Songwriter damit begonnen, mich mit dem Konzept einer Autobiografie auseinanderzusetzen. Wir haben quasi auf „das Rote Album“ die Tür zur Autobiografie geöffnet und jetzt war es für uns einfach spannend, auch durch diese Tür zu gehen. Ursprünglich habe ich die Stücke für mich geschrieben und erst, als ich sie dem Rest der Band gezeigt habe, ist uns aufgefallen, wie viele Parallelen wir in unseren Leben haben. Insofern kann man auch von einer Tocotronic-Autobiografie sprechen und nicht nur von einer Dirk-Autobiografie.
In welchem Zeitraum schreibt man ein autobiografisches Album? Inwiefern hat sich diese Produktion von anderen Produktionen unterschieden?
Die ersten Stücke habe ich Ende 2015 Jan Müller gezeigt. Er ist ein sehr guter Lektor, wenn es um Texte geht. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass wir mehr Stücke schreiben müssen, als sonst. Hätten wir wirklich nur zwölf oder 13 Songs geschrieben, dann wäre das viel zu eindimensional gewesen, um für einige prägende Lebensabschnitte unseres Lebens eine repräsentative Auswahl zu treffen. Im Endeffekt hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, 24 fertige Songs vorliegen, aus denen, in Zusammenarbeit mit unserem Produzenten Moses Schneider, letztendlich das Album entstanden ist. Er hatte auch die Idee, die Songs chronologisch zu ordnen. Da wären wir nicht drauf gekommen.
Ist denn der komplette Tocotronic-Bogen jetzt gespannt, sodass die Geschichte komplett erzählt ist? Kurz gesagt: Ist Tocotronic auserzählt?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt echt schwer zu sagen. Wir sind gerade erst mit dem Album fertig geworden und haben uns dafür echt viel Zeit genommen. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir uns einfach nur darauf freuen, mit den Leuten in einen Dialog zu treten, die das Album auch hören. Popmusik wird für uns erst zu dem, was sie ist, wenn Menschen sich mit besungenen Erfahrungen identifizieren können.
Wie wichtig ist es denn nach 25 Jahren Tocotronic überhaupt noch, sich zum Weitermachen zu motivieren?
Ich hatte ursprünglich das Gefühl, dass ich die Albumtexte erst einmal für mich schreibe. Vielleicht war das eine Art Selbsttherapie, aber letztendlich hatte ich das Gefühl, dass diese Autobiografie doch irgendwie erzählenswert ist. Aber generell ist das eine gute Frage. Bei uns spielt die enge und langjährige Freundschaft zwischen den Bandmitgliedern sicher eine große Rolle, die uns dazu verhilft, dass wir uns gegenseitig motivieren.
Ihr seid ja auch abseits mit anderen Bandprojekten oder einer Oper sehr umtriebig. Wie findet man da die Zeit, sich für ein derartig intimes Projekt, wie „Die Unendlichkeit“, zu öffnen?
Man muss einfach Spaß daran haben, zu arbeiten. Wir haben auch den großen Luxus, dass wir von unserer Musik leben können und dass eben jene unser Job ist. Das ist leider bei vielen Musikern heutzutage nicht so. Manchmal ist es auch so, dass Nebenprojekte zusätzlich motivieren und inspirieren.
Generell passt dieser Spaß an der Arbeit doch eigentlich gar nicht zu euch! Ich erinnere mich an 2007 und den Song „Luft“, in dem ihr folgendes gesungen habt: „Ich habe heute nichts getan, die Arbeit ist gemacht.“ Was hat sich seitdem verändert?
Naja, eigentlich waren wir als Band ja immer recht fleißig. In den letzten 25 Jahren haben wir zwölf Alben veröffentlicht. Das kann sich schon sehen lassen. Wir haben eigentlich nur eine Wunschvorstellung, dass wir nichts tun, aber im Endeffekt kriegen wir das dann auch nicht hin.
Seid ihr denn trotzdem noch die, von der TAZ so beschriebenen, „Neinsager der Nation“?
Ja, diese Zuschreibungen sind natürlich immer etwas schwierig. Unser Ziel war es eigentlich immer, Musik zu machen, die auch gehört wird und für die wir auch gemocht werden. Jede andere Aussage wäre verlogen. Eine reine Verweigerungshalterung wäre lächerlich, aber ich glaube schon, dass wir als Band schon allein dadurch ein Politikum darstellen, dass wir in den letzten 25 Jahren immer machen konnten, was wir wollten und das unsere Platten immer so geklungen haben, wie sie klingen sollten.
Was unterscheidet euch denn sonst noch, eurer Meinung nach, von anderen Bands, die schon so lange im Geschäft sind?
Ein Hauptunterschied liegt bestimmt in unserer Besetzung. Wir waren immer dieselben drei und 2005 ist Rick dazugekommen, aber sonst gab es keine Veränderungen. Bei anderen Bands sind oft nur noch ein oder zwei Gründungsmitglieder dabei.
Wir haben noch festgestellt, dass ihr es, als deutsche Indie-Rock-Dinosaurier, immer noch schafft, sowohl ältere, als auch jüngere Menschen für eure Musik zu begeistern. Das sieht man besonders auf euren Konzerten. Wie macht ihr das?
Modisch sind wir natürlich auch immer ganz weit vorne. (lacht) Nein, ich habe keine Ahnung. Wir freuen uns natürlich darüber und sind auch sehr dankbar für jeden, der sich für unsere Musik interessiert, aber analysieren kann ich das jetzt nicht. Ich sehe das Publikum von der Bühne aus, aber kenne die Leute in den seltensten Fällen persönlich und kann nicht sagen, was die motiviert hat, zu einem Konzert von uns zu kommen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es mittlerweile auch einfach viele Jugendliche gibt, die durch ihre Eltern mit unserer Musik vertraut geworden sind. Mich hat neulich eine junge Frau angesprochen und erzählt, dass in der Küche ihrer Eltern schon immer ein Tocotronic-Aufkleber geklebt. Vielleicht wird Interesse für Tocotronic auch vererbt?
Im Frühling geht ihr mit dem neuen Album auf Tour und wir haben uns gefragt, welcher Zustand denn der passendste wäre, um eure Autobiografie live am besten mitzuerleben und zu verstehen?
Das ist jedem selbst überlassen! Man kann nüchtern sein oder auch vollkommen angesoffen. Naja, im Endeffekt sind wir kein klassisches Ensemble, bei dem man sich wirklich auf die Musik konzentrieren muss. Insofern können ein paar Bier sicher nicht schaden.
Wie kann man sich die Tour überhaupt vorstellen? Wird es Shows geben, bei denen ihr nur das Album in voller Länge spielt?
Ne, auf keinen Fall. Ich mag das nicht so. Das hat so einen steifen und aufgesetzten Touch. Es gibt ein legitimes Bedürfnis, dass man auf Konzerten auch ältere Songs hören will, die man lange nicht gehört hat oder mal wieder hören will.
Hier könnt ihr Tocotronic in diesem Frühling live erleben:
06.03.2018 Bremen – Schlachthof
07.03.2018 Münster – Sputnikhalle
08.03.2018 Heidelberg – Halle 02
09.03.2018 Erlangen – E-Werk
11.03.2018 Erfurt – Stadtgarten
12.03.2018 Wiesbaden – Schlachthof
13.03.2018 Köln – E-Werk
14.03.2018 Hannover – Capitol
17.03.2018 Hamburg – Große Freiheit 36
06.04.2018 Leipzig – Werk II
07.04.2018 Essen – Weststadthalle
08.04.2018 Stuttgart – Theaterhaus
11.04.2018 Freiburg – E-Werk
12.04.2018 München – Tonhalle
14.04.2018 Dresden – Alter Schlachthof
16.04.2018 Berlin – Columbiahalle
17.04.2018 Berlin – Columbiahalle
Support: Ilgen-Nur