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„Wir verkaufen doch nur aufgeklärte Waffen“ – Hagen Rether im Schauspielhaus Bochum (gesehen am 29. Juni 2016)

Hagen Rether mischt in der obersten Humor-Liga des Landes mit. Jede Timeline ist anders, aber meinem Social-Media-Empfinden nach, ist er derzeit gemeinsam mit Volker Pispers der meist geteilte Kabarettist.

Im ausverkauften Schauspielhaus Bochum startet er locker mit dem vom britischen Volk entschiedenen Brexit: „Ich bin froh, dass man so nicht auch über die Todesstrafe abstimmt“. Rether fokussiert in seinem Programm vor allem die aktuelle weltpolitische Lage, sowie die hier herrschende gesellschaftliche Atmosphäre. Dass Meinungsfreiheit nicht bedeuten kann, all seinen reaktionären Zorn ungefiltert auszukotzen, ist ihm ein besonderes Anliegen. Wut sei die einfachste Reaktion, das können schon Dreijährige. Das Ziel müsse immer sein, besonnen und friedlich zu reagieren – dem Menschen allein stünde doch dieses unsagbare Privileg zu.

Praktisch ununterbrochen auf Tournee: Hagen Rether © hagenrether.de

Sich als Deutscher über Terror und Wahnsinn in aller Welt zu wundern und gleichzeitig Waffen in alle Welt zu liefern, ist schon so eine Sache. Kann man denn wirklich etwas für jene Gewalteskalationen? Man hat doch den Kant gelesen, man ist doch aufgeklärt. Es scheint, als gelte die Losung: „Wir verkaufen doch nur aufgeklärte Waffen“.

Rether thematisiert nicht nur systemische Schwachstellen, er gibt auch auffällig viele konkrete Handlungsvorschläge – nicht immer sind diese frei von Widersprüchen. Zu Zeiten, in denen das Wort „Helikopter-Eltern“ gerne abwertend medial aufgegriffen wurde, fand eine große Diskussion statt, in der es im Wesentlichen darum ging, dass Kinder von heute völlig ausgebrannt seien, da sie von einem Programmpunkt zum nächsten hecheln müssten. Schuld seien die Eltern, die in unerbittlicher Konkurrenz zueinander, eine Art Markttauglichkeitswettbewerb auf den Schultern ihrer Schützlinge austragen. Rether nimmt das Thema noch einmal auf und appelliert: „Die Kleinen sollten nach der Schule zum Essen nach Hause kommen und dann bis abends gemeinsam um die Häuser ziehen. Dann gibt“™s noch das Sandmännchen und ab ins Bett.“ Tosender Spontan-Applaus!

Interessanterweise folgt aber schon bald darauf dieser Programmpunkt: Er schlägt zum ersten Mal genüsslich (lies selbstverliebt) in die Tasten des Flügels, verbindet auf herrliche Weise Klänge von Bach mit jazzigen Themen. Dabei bringt er dann folgenden koketten Gag: „Ich hab‘ ja mal Musik in Essen studiert. Hört man gar nicht mehr… Ich hab‘ lange gebraucht, um das wieder wegzubekommen!“. Tja.. Hätte Rether seine komplette Kindheit auf der Straße verbracht, weil man dort – wie er sagt – von alleine „das Entscheidende“ Face to Face lernt: Er wäre vermutlich nicht der Pianist geworden, der er heute ist – vielleicht auch gar kein Bühnenmensch. Es sollte Eltern bei aller Kritik doch auch eine gewisse nachträglicher Anerkennung dafür zukommen, dass sie einen in jungen Jahren auch mal zum Unterricht oder Verein geschliffen haben.

Meistens handelt Hagen Rether raffiniert und clever in seiner Bühnendramaturgie. Er setzt voll auf die Illusion des Beiläufigen, putzt seinen Flügel, schält in Zeitlupentempo Bananen und redet halt so daher. Und dann „zack!“: Es schlägt eine Pointe ein, die durch Marg und Bein geht. Er vertritt praktisch ein Gegenmodell zu dem, was einst Dieter Hildebrandt oder auch Georg Schramm etablierten: Die eigentlich geduldig wirkende Person, die aus den eigenen Reihen zu stammen scheint und der nach langer Zeit der Nachsicht der Kragen platzt. Man redet sich in Rage, scheint immer wieder aus der Rolle zu fallen, beleuchtet kritische Zustände von allen Seiten und behält am Ende irgendwie immer Recht. Rether haucht dem Publikum seine Gedanken und Lösungsansätze sehr viel dezenter, aber gleichzeitig auch bestimmter ein. Er regt sich nicht groß auf, zieht dann und wann nur ein schrill lachendes Gesicht – tonlos.

Manchmal pauschalisiert er ungemein, auch wenn er das Verallgemeinern an sich an anderer Stelle wieder verdammt: „Es sind genau die Leute, die sich über Fluglärm beschweren, die sobald sie einen beweglichen Ferientag nutzen können, direkt nach Mallorca fliegen und sich dann im Flieger darüber aufregen, dass für 19,00 € kein Mittagessen inklusive ist“. Ob sich die Anwohner von Hamburg Stellingen und Berlin Tegel hier tätsächlich widergespiegelt sehen? Ist das nicht etwas… sehr undifferenziert gedacht?

Auch bei Hagen Rether lässt sich fragen „Was hat man eigentlich davon, ins Kabarett zu gehen?“. In erster Linie wird wohl das eigene Unbehagen stabilisiert und der Unmut, den man ohnehin mit sich herumträgt,  artikuliert. Schön, sich einmal gemeinsam aufzuregen, vielleicht sogar dabei zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Aber wandelt sich dadurch tatsächlich das persönliche Weltbild oder sucht man nicht viel mehr nach pointiert vorgetragenen Bestätigung der eigenen Meinung? Verändert ein Abend, an dem so etwas wie eine gemeinsame Solidarität für die gute Sache im Saal zu spüren ist, einen Menschen? Wer will das beantworten. Und Hand auf’s Herz: Ist es wirklich entscheidend?

Abschließend noch ein grandioser Fun Fact aus Hagen Rethers Show: Das Haus von George Orwell ist heute ein Museum und wird rund um die Uhr von Kameras überwacht.

– Julian Gerhard

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